Starke große Brüder können hilfreich sein. Oder ein Problem.

Sich als Schutzmacht schutzbedürftiger Minderheiten darzustellen, ist die liebste Pose von Kriegstreibern aller Art.

Auf dem Schulhof kann es sehr hilfreich sein, einen starken Freund oder eine starke Freundin zu haben. Insbesondere dann, wenn man sich schwach fühlt, ausgeschlossen, ausgelacht, gemobbt – oder sogar tätlich angegriffen wird. „Ich hol meinen großen Bruder“ ist da eine wirksame Methode, sich Respekt zu verschaffen.

Ähnlich ist das in der Weltpolitik. Wer einen mächtigen Beschützer auf seiner Seite weiß, der einem, zumindest theoretisch, mit ökonomischen Sanktionen, politischem Druck oder Raketen beispringen kann, muss weniger Angst haben als eine Gruppe, die ganz allein dasteht. Speziell für ethnische Minderheiten ist es in manchen Situationen ein beruhigendes Gefühl, eine solidarische Schutzmacht zu haben. Für die Deutschsprachigen in Südtirol war es wichtig, dass es Österreich gab. Für die Kärntner Slowenen war Slowenien manchmal hilfreich (manchmal weniger). Für die Minderheitenrechte der Dänen in Deutschland fühlt sich auch irgendwie Dänemark zuständig.

Problematisch wird es jedoch, wenn sich der Mechanismus umdreht. Wenn der große Bruder nicht ruhig und souverän am Rand des Schulhofs steht, um den Frieden zu garantieren, sondern aktiv Konflikte schürt, um sich wichtigzumachen. Wenn er Vorwände sucht, um sich hineinzudrängen. Wenn er die kleinen, angeblich bedrängten Geschwister bloß als Ausrede benützt, um endlich dreinschlagen zu dürfen. „Is was, he? Was schaust denn so komisch? Hast was g'sagt?“

In der Weltpolitik ist genau das ein gängiges Muster der Konflikteskalation. Wer einen Krieg beginnen will, beruft sich gern auf eine bedrängte Gruppe, die man, auf dem Gebiet des Feindes, unbedingt sofort schützen müsse – am besten, indem man Territorium annektiert, Truppen einmarschieren lässt oder Killerkommandos zum Sturz der Regierung losschickt.

Als die deutsche Armee 1939 Polen überfiel, tat sie das – so sagten die Nazis – zum Schutz der drangsalierten deutschen Minderheit in Polen und der isolierten Deutschen in Ostpreußen. In die Tschechoslowakei marschierten die Nazis ein, um die Sudetendeutschen „heim ins Reich“ zu holen – wie zumindest einige von diesen jahrelang verlangt hatten. Im Bosnien-Krieg beschwor die serbische Führung den Schutz der serbischen Minderheit, die kroatische Führung den Schutz der kroatischen. Und als Slobodan Milošević auf dem Amselfeld stand und feierlich versprach, die kosovarischen Serben zu schützen, begann der Kosovo-Krieg.

Auch heute ist dieses Denken eine Gefahr für die Stabilität Europas. Wo Ungarn leben, ist Ungarn – so lautet das Credo der ungarischen Regierung, die Landkarten von Großungarn zeichnet und an die ungarischen Minderheiten in Rumänien und der Slowakei freigiebig Pässe und Wahlrecht verteilt. Wo Russen leben, ist Russland – so ähnlich, nur militärisch viel gefährlicher, denken auch die expansionistischen Ideologen rund um Wladimir Putin; wo jemand Russisch spricht, meinen sie, wird sich wohl stets jemand finden, der den großen Bruder Russland um militärischen Beistand ersucht. Wo Türken leben, bin ich zuständig – so ähnlich denkt im Übrigen auch der türkische Premier Erdoğan.

Diese Taktik funktioniert selbstverständlich nur, solange man einen völkischen Begriff von Zugehörigkeit hat. Solange nicht Staatbürgerschaft, Verfassung und Bürgerrechte das Wort „Nation“ definieren – sondern Sprache, Ethnie, Blut und Abstammung.

Würden auf der Welt alle so denken – China müsste längst, samt seiner geballten Militärmacht, den chinesischen Minderheiten in Malaysia oder auf den Philippinen zu Hilfe eilen. Die durchgeknallte Atommacht Nordkorea müsste die diskriminierten Koreaner in Japan verteidigen. Und Indien könnte, zum Schutz der hunderttausenden Inder, die dort als Händler und Geschäftsleute leben, in Kenia, Uganda oder Südafrika einmarschieren.

Besser, wir stellen uns gar erst nicht im Detail vor, wie viel Schaden dieses Denken noch anrichten kann.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2014)

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