Rettungsanker im Nahost-Chaos: Wie gut, dass es die Kurden gibt!

Inmitten des Kriegswahnsinns in Syrien und im Irak sind die Kurden heute der einzige Rückhalt für Stabilität und Vernunft. Was täte der Westen ohne sie?

Die Dschinns waren engelsähnliche Wesen, Diener des legendenumwobenen Königs Salomo. Sie konnten fliegen, mit Menschen kommunizieren und hatten einen freien Willen. König Salomo soll sie in die Ferne geschickt haben, mit dem Auftrag, 500 Jungfrauen für seinen Harem einzusammeln. Das taten die Dschinns auch. Aber als sie, 500 Frauen im Schlepptau, nach Israel zurückkehrten, war Salomo tot. Kurzentschlossen disponierten sie um, zogen samt Jungfrauen in die Berge, heirateten sie, zeugten mit ihnen Kinder. So lautet eine der vielen Legenden über den Ursprung des kurdischen Volkes.

In den Bergen leben Kurden immer noch. Laut Legende hätten sie dort glücklich werden können. Doch das wurden sie nur ganz selten. Die etwa 30 Millionen Kurden gehören zu den großen Völkern Eurasiens, die nie einen eigenen Staat hatten. Ihre Religion ist vielfältig (es gibt Sunniten unter ihnen, Schiiten, Alewiten, Sufis, Yeziden, sogar einige Juden), bei allen Religionen waren sie stets der toleranteren Seite zugeneigt.

Die kurdische Sprache ist dem Persischen verwandt, doch meistens wurde sie geleugnet oder verboten. So wie sich durch ihre gesamte Geschichte eine tragische Spur von Gewalt zieht.

Etwa 1,3 Millionen Kurden leben in der westeuropäischen Diaspora. Österreich war für viele ihrer politischen Führungspersönlichkeiten jahrzehntelang ein wichtiger Ort – hier studierten sie, organisierten sie sich, schmiedeten sie Allianzen. Doch es fiel ihnen stets schwer, eine breitete Öffentlichkeit für all die Dramen zu interessieren, die daheim passierten.

In der Türkei führte die Armee in den 1980er-Jahren einen Feldzug gegen die marxistische Rebellentruppe PKK, walzte Dörfer nieder, schickte Exekutionskommandos, entvölkerte ganze Landstriche und trieb die Kurden in die Städte – in der Hoffnung, dort würden sie ihre Kultur vergessen. In Syrien waren kurdische Sprache und Bücher ebenfalls verboten. Die Behörden entzogen allen, die sich als Kurden bekannten, die Staatsbürgerrechte und machte sie damit zu Rechtlosen im eigenen Land. Im ölreichen kurdischen Nordirak wiederum betrieb Bagdad jahrzehntelang eine systematische Arabisierungspolitik. In den 1980er-Jahren steigerte der Diktator Saddam Hussein die Dosis – kurdische Dörfer wurden bombardiert, in Brand gesteckt. Bis heute erinnert man sich mit Schaudern an den Giftgasangriff auf die Kleinstadt Halabja, der 5000 Tote forderte.

Doch all die Klagen gegen diese Menschenrechtsverletzungen, die Demonstrationen und Petitionen wurden kaum je gehört. Die kurdische Frage schaffte es nie auf die politische Agenda. Die Welt hatte andere Probleme. Die Welt brauchte die Kurden nicht. Erst jetzt plötzlich braucht die Welt die Kurden. Im Irak, in Syrien – überall brennt es.

Es gibt in dieser Krisenregion niemanden mehr, auf den man zählen, auf den man sich verlassen kann. Außer den Kurden. Sie sind die Einzigen, denen es bisher gelungen ist, die mordenden Fanatiker der IS zu stoppen. Während die irakische Armee die Flucht ergriff, stellten sich kurdische Peschmergas ihnen entgegen, beschossen sie, schlugen sie an manchen Abschnitten zurück. In der türkischen Grenzregion verhinderten sie Attentate.

Kurden waren die Einzigen, die den Yeziden rettend zur Seite sprangen, ihnen einen Korridor freikämpften. Sie sind die Einzigen, die zehntausenden yezidischen und christlichen Flüchtlingen heute Unterschlupf bieten.

Die EU verharrt in Schockstarre; die Supermacht USA steht ratlos vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik im Mittleren Osten. Niemand weiß mehr, was zu tun ist. Der einzige Plan, der inmitten des Chaos realisierbar erscheint, lautet: den Kurden Waffen zu liefern, damit sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Allein.

Eine größere Würdigung ihrer kämpferischen Fähigkeiten, ihrer moralischen Integrität und ihrer Vernunft hätte den Kurden kaum zuteil werden können. Schade, dass es erst unter derart schrecklichen Umständen passiert.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2014)

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