Weit und breit kein starker Mann. Bloß einer: Wladimir Putin.

Der russische Präsident ist nicht nur in Russland beliebter denn je. Auch in Westeuropa hat er mehr Fans, als man vermuten würde. Warum?

Eine gute Presse hat er im Westen ja eher nicht. Wladimir Putin, Russlands Präsident, kommt in der Öffentlichkeit derzeit vor allem als Kriegstreiber vor, als skrupelloser Machtmensch, als eitler Selbstdarsteller. All das entspricht mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen. Bloß in einer Rolle wird Putin zu wenig wahrgenommen: als insgeheim verehrtes Idol überraschend vieler Menschen. In Russland sind Putins Popularitätswerte hoch wie nie – obwohl der Rubel-Kurs sinkt, die Lebensmittelpreise in den Geschäften jeden Tag weiter steigen, und der Ukraine-Konflikt der russischen Wirtschaft schwer zusetzt. Gleichzeitig scheinen auch in Westeuropa immer mehr Bürger und Bürgerinnen vom starken Mann im Osten fasziniert. Nach dem Motto: Endlich ist da einer, der sich etwas traut. Der Amerika die Stirn bietet. Der auf Hinsicht und Rücksicht pfeift, und geradlinig sein Ding durchzieht.

Sehr reflektiert ist diese Faszination meist nicht. Es reichen ein paar Markierungen, um sie auszulösen: das kantige Gesicht mit dem trotzigen Blick, die Fotoarrangements in der Wildnis, die Macho-Posen mit Muskeln, wilden Tieren und Gewehr. Doch all diese Trigger würden nicht so gut funktionieren, gäbe es dahinter nicht auch ein konzises Weltbild. Für das ziemlich viele Europäer empfänglich sind.

Erstes einendes Element dieses Weltbilds ist der Antiamerikanismus. Den USA gibt man die Schuld an allen Krisen der Gegenwart: an den Kriegen im Irak und Syrien, dem Erstarken des radikalen Islamismus, an der internationalen Wirtschaftskrise und der allgegenwärtigen Arbeitslosigkeit. Skrupellos verfolgen die USA ihre Interessen, heißt es, militärisch, wirtschaftlich und kulturell. Sie diktieren dem Rest der Welt ihre Bedingungen. Und alle nehmen diese Befehle demütig entgegen und führen sie beflissen aus. Alle – außer Putin.

Zweites Element ist die Frustration über die EU und die Mühen der Brüsseler Politik. Europa stellt sich als Konglomerat widersprüchlicher Interessen dar, multipolar, vielsprachig, schwer durchschaubar in den Entscheidungsstrukturen, bürokratisch und gesichtslos. Putin hingegen agiert wie ein General. Einer schafft an. Was er sagt, gilt – auch wenn es wehtut. In den Augen von überforderten EU-Bürgern, die für ihre Ängste und ihren Zorn keinen Adressaten finden, wirkt diese Klarheit verlockend attraktiv.

Verwandt damit ist das wachsende Misstrauen gegenüber den meinungsbildenden Eliten in Westeuropa. Wutbürger und Verschwörungstheoretiker gewinnen überall an Boden, samt ihrer fixen Idee, westliche Medien seien allesamt bloß der verlängerte Arm der amerikanischen Geheimdienste („Gekaufte Journalisten“, der aktuelle Bestseller von Udo Ulfkotte ist nur ein Beispiel). Nein, man will von irgendwelchen Besserwissern nicht mehr erklärt kriegen, wie kompliziert alles ist. Viel einfacher ist es zu glauben, man werde ohnehin systematisch belogen – dann kann man es sich sparen weiterzulesen.

Der Kitt schließlich, der diese Weltbildteile emotional zusammenhält, ist Nostalgie. Die Behauptung, es gebe irgendwo die „heile Nation“, die „heile Familie“ , die „gottgegebene Ordnung“ und die „wahre Kultur“, die allerdings erst wieder zu ihrem Recht kämen, wenn man die zersetzenden Kräfte in ihre Schlupflöcher zurückgescheucht habe.

Zersetzend, als da wären: Feminismus, Homosexualität, ethnische Vermischung, Materialismus, Individualismus und moralische Beliebigkeit.

Ach, wie schön wäre es, wenn da endlich jemand aufräumt! Ordnung macht! Allen ihren Platz zuweist! Uns zeigt, wo oben und unten ist, wo wir uns einreihen sollen in das große Ganze, und uns damit die Last der Verantwortung von den Schultern nimmt: So lautet der Putin-Traum. Russen und Nichtrussen, Rechte und Linke, alte Stalinisten, junge FPÖler und viele, viele Unpolitische träumen ihn gemeinsam. Leider.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2014)

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