In der strengen Kammer wäre Entfesselung angesagt

Die Wirtschaft brauche weniger Vorschriften, sagt Wirtschaftskammer-Chef Leitl. Aber ja doch! Am besten fängt er gleich in seiner eigenen Organisation damit an.

In der Wirtschaftskammer wird gewählt. Christoph Leitl wirft sich dieser Tage deswegen mit besonderer Verve für die Unternehmen in die Schlacht: Man müsse Österreich entbürokratisieren und „Doppelgleisigkeiten in der Verwaltung abbauen“, sagt er. Das ist, nun ja, sehr originell. Denn für die Entfesselung, Befreiung von Vorschriften und die Abschaffung von Doppelgleisigkeiten hätte Leitl ein riesiges Betätigungsfeld: seine eigene Organisation.

Oder besser gesagt: die zehn Wirtschaftskammern (eine für jedes Bundesland, eine für den Bund), die aus je sieben Sparten bestehen, diese wiederum aus ungezählten Fachgruppen (von denen einige, der Übersichtlichkeit halber, Fachverbände, Innungen oder Gremien heißen). Um das alles zu verwalten, braucht es 3812 Funktionäre und 650 Millionen Euro im Jahr – 61,8 Millionen davon allein für die Kammerpensionisten.

Für die politische Standesvertretung dieses vielarmigen Ungetüms werden 8905 Mandatare in 857 Wahlkörpern gewählt. Für all diese Menschen muss es natürlich etwas zu tun und zu regeln geben.

Wer eine atmosphärische Zeitreise ins Zunftwesen des Mittelalters unternehmen möchte, dem sei die Liste der reglementierten Gewerbe in der österreichischen Gewerbeordnung empfohlen. Sofort erscheinen da vor dem geistigen Auge sepiafarbene Bilder von Damen in Krinolinen, begleitet vom Geklapper der Pferdehufe auf dem Pflaster.

„Sattler einschließlich Fahrzeugsattler und Riemer sowie Ledergalanteriewarenerzeugung und Taschner“ sind da angeführt, „Kürschner, Säckler“, „Konditor (Zuckerbäcker) einschließlich der Lebzelter und Kanditen-, Gefrorenes- und Schokoladewarenerzeugung“, „Buchbinder sowie Etui- und Kassettenerzeugung“, „Steinmetzmeister einschließlich Kunststeinerzeugung und Terrazzomacher“, nicht zu verwechseln mit „Stuckateuren“, die ein eigenes Gewerbe sind. „Bildhauer“ hingegen gehören zur Gruppe der „Tischler, Modellbauer, Bootbauer, Binder, Drechsler“. Dass es in bestimmten Berufen gut für die Allgemeinheit ist, wenn man sich auskennt, soll hier nicht bestritten werden. Bei Optikern, Bestattern und Büchsenmachern ist eine Eignungsprüfung wohl ebenso sinnvoll wie bei der „Erzeugung von pyrotechnischen Artikeln“ und von „Arzneimitteln und Giften“. Zahntechniker, die sich ihr Gewerbe selbst beigebracht haben, können wehtun.

Aber Orgelbauer, Schildermaler, Floristen oder Perückenmacher? Könnten sie ihre Instrumente, Schilder, Blumengestecke oder Perücken nicht einfach herstellen und schauen, ob sie auf dem Markt dafür Käufer finden? Nein, das dürfen sie nicht. Die Kammer muss vorher ihre „Befähigung“ bescheinigen. Damit die Funktionäre etwas zu tun und bereits existierende Unternehmen nur ja keine Konkurrenz bekommen.

Die Kammer wacht also über Kenntnisse von Fremdenführern und Lebensberatern; Letztere könnten sich allenfalls auf „PR-Beratung“, „Farb-, Typ-, Stilberatung“ oder „Wahrsagerei“ verlegen, sie fallen nämlich unter freie Gewerbe, für die man zwar einen Gewerbeschein, aber keinen Befähigungsnachweis braucht.

Auch wacht die Kammer darüber, dass die Nagelstudiobesitzerin Fingernägel, nicht aber Fußnägel lackiert. Dass bei der „Erzeugung von Kopfbedeckungen“ und der „Erzeugung von Latexbekleidung“ (freie Gewerbe) die Grenze zur „Damenkleidermacherei“ (reglementiertes Gewerbe) ja nicht überschritten wird. „Massage“ braucht eine Eignung, nicht jedoch die „Erzeugung von Hieb- und Stichwaffen“.

Beim „Packen von Fallschirmen“ hingegen sähe ich mehr Bedarf an Reglementierung als die WKO, ebenso bei der „Errichtung von Klettersteigen im alpinen Gelände“ und der „Enteisung und Betankung von Luftfahrzeugen“.

Aber vielleicht fehlt mir für solch komplexe Sachverhalte bloß das Verständnis. Muss ich, als Journalistin und „neue Selbstständige“, doch ganz ohne Befähigungsnachweis auskommen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann ist Journalistin in Wien. Ihre Website: www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2015)

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