Eine Stadt? Oder doch zwei Städte? Leben wir alle in derselben?

Die allermeisten Bewohner der Bundeshauptstadt halten Wien für ausgesprochen lebenswert. Nur die FPÖ-Wähler nicht. Wie kann das sein?

Charles Dickens lebte in London, in einer Zeit dramatischer Umbrüche. Die industrielle Revolution hatte England erfasst, Zuwanderer strömten in die Städte, lebten in Slums, in schrecklichen Verhältnissen, von denen man eine Ahnung kriegt, wenn man „Oliver Twist“ liest. Auch Dickens selbst hatte es schwer. Er war das zweite von acht Kindern, sein Vater wurde ins Schuldgefängnis gesperrt, und der zwölfjährige Charles musste als Hilfsarbeiter in die Fabrik, um die Schulden abzuzahlen.

Mit Wien hat das alles nichts zu tun. Außer, dass der Titel eines berühmten Dickens-Romans perfekt zum Ergebnis der Wiener Wahl passt: „A Tale of Two Cities“.

Eines der rätselhaftesten Ergebnisse war nämlich, wie sehr sich das Wien-Bild der FPÖ-Wähler vom Wien-Bild aller anderen Bewohner unterscheidet. So sehr, dass man meinen könnte, es sei von zwei verschiedenen Städten die Rede. „Wien ist eine sehr lebenswerte Stadt.“ Diesem Satz stimmen nur 30 Prozent jener zu, die der FPÖ ihre Stimme gegeben haben. Während es bei der SPÖ 89 und den Grünen gar 94 Prozent sind.

An vielen Orten auf der Welt wäre eine derartige Diskrepanz in der Wahrnehmung verschiedener Bevölkerungsgruppen objektiv nachvollziehbar. In Südafrika etwa, mit seinen Townships fernab der „richtigen“ Städte, im Westjordanland, wo eine hohe Mauer die jüdischen Siedlungen von den palästinensischen Dörfern trennt, in den USA, wo sich das Leben in den verwahrlosten Innenstädten vom Leben in den Mittelklassevororten radikal unterscheidet, oder in Dritte-Welt-Metropolen, wo die Reichen in umzäunten Ghettos leben, und Millionen Arme in Slums. Aber in Wien?

Auch in Wien strapazieren FPÖ-Sympathisanten gern das Bild von den „zwei Städten“. Sie allein, behaupten sie, wüssten, was sich im „richtigen“ Wien abspielen würde: kennen aus eigener Anschauung den Dreck im Park, die kaputte Infrastruktur im Gemeindebau, die ethnischen Konflikte in den Pausenhöfen, die Messerstechereien vor den Wettlokalen, das Elend auf den Straßen und in der Straßenbahn. Während alle anderen – die sogenannten Bobos, Salonlinken, Privilegierten, Studierten – sich in einer abgehobenen Scheinwelt bewegten, in ihren schicken Privatschulen, Privatspitälern und Privatclubs, und mit dem „richtigen“ Wien kaum jemals in Berührung kämen.

„Ihr habt doch keine Ahnung“, heißt es oft abfällig. Soll heißen: Würdet ihr täglich erleben, was wir erleben, würdet ihr ebenfalls FPÖ wählen. Doch das stimmt nicht.

Es ist zwar unbestreitbar, dass persönlicher Wohlstand das Leben angenehmer macht, selbstverständlich auch in Wien. Wer im Dachgeschoß wohnt, hat einen schöneren Blick auf die Stadt als jener, der aus einer finsteren Erdgeschoßwohnung auf die acht Fahrspuren des Gürtels hinausblickt. Ein Schulweg, der durch den schattigen Augarten führt, ist angenehmer als einer über den Verteilerkreis Süd. Wahrscheinlich sind Parkanlagen in reicheren Wohngegenden im Durchschnitt tatsächlich ruhiger als in ärmeren (weil die Anrainer größere Wohnungen haben); und der Einkauf beim Meinl am Graben fühlt sich – wenn man sich ihn leisten kann – besser als jener im Ein-Euro-Shop in der Brigittenau an.

Aber viel weiter reicht die Legende von den „zwei Städten“ dann schon nicht mehr. Sprengelergebnisse dieser Wahl verraten: Jene, die Wien für sehr lebenswert halten, wohnen mit jenen, die es schrecklich finden, häufig Tür an Tür. Sie gehen über dieselben Gehsteige, benützen dieselbe Straßenbahn, kaufen auf denselben Märkten ein, ihre Kinder gehen in dieselbe Schulklasse. Im Sommer gehen sie in dasselbe Freibad und zu denselben Grillplätzen. Sie sitzen in denselben Spitalsambulanzen, in denselben Wartezimmern, auf denselben Parkbänken. Sie begegnen denselben Menschen, beobachten dieselben Probleme, atmen dieselbe Luft.

Es ist ein- und dieselbe Stadt, in der wir leben. Wir kennen sie. Wir nehmen sie nur verschieden wahr.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2015)

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