Warum es sich gut anfühlt, über Flüchtlinge Lügen zu verbreiten

APA/BARBARA GINDL
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Es gibt zwei Arten, mit unmittelbar sichtbarer Not umzugehen: Entweder man hilft den Bedürftigen, oder man erfindet Gründe, um ja nicht helfen zu müssen.

Seit in großer Zahl Flüchtlinge ins Land kommen, gehen in großer Zahl Gerüchte um. Sie setzen sich aus Versatzstücken zusammen, die, neu zusammengefügt und mit anderen Ortsnamen versehen, stets wiederkehren. Es geht um angebliche Plünderungen (jeder Supermarktname wurde bereits genannt, kein einziger Vorfall bestätigt). Um absichtliche Verschmutzungen, Sachbeschädigungen, um Schmähungen, Beleidigungen, Respektlosigkeiten, um sexuelle Übergriffe. Mehrfach wurden diese Gerüchte bisher von allen, die es wissen müssten, widerlegt. Doch es hilft nichts – jeden Tag werden neue erfunden, ausgeschmückt und weitergereicht. Warum haben so viele Menschen offenbar das dringende Bedürfnis, Flüchtlingen Missetaten anzuhängen, die sie nicht begangen haben?

Die vordergründige Analyse würde lauten: Aus Bösartigkeit. Das aber greift vielleicht zu kurz. Ich will hier eine andere, kompliziertere Erklärung zur Diskussion stellen. Diese beruht auf der Grundannahme, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Er hält es schwer aus, andere Menschen leiden zu sehen.

Wir alle kennen den Stich, den es uns versetzt, wenn wir an jemandem vorbeigehen, der offenkundig Hilfe braucht: Jemand hat Schmerzen, Hunger, kann nicht aufstehen, ist verletzt, sucht etwas, fürchtet sich, wird bedroht. Man fühlt sich unangenehm berührt in diesem Moment, auch wenn man weiß, dass man am Problem dieses Menschen nicht persönlich schuld ist. Es zu sehen, fühlt sich wie ein Vorwurf an, wie ein Auftrag zu handeln.

Zwei Möglichkeiten gibt es nun, dieses unangenehme Gefühl aufzulösen: Entweder man tut etwas. Das muss keine Heldentat sein, es reicht eine kleine Geste im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Beim Obdachlosen kann das eine Euromünze sein, beim Kranken ein Anruf bei der Rettung, beim Verirrten ein paar begleitende Schritte bis zur nächsten Ecke.

Oder aber – man tut nichts. Weil man unsicher ist. Weil man Angst hat. Sich peinlich berührt fühlt. Keine Zeit hat. Dann versucht man, das Nichtstun vor sich selbst zu rechtfertigen. Das gelingt am besten, indem man sich selbst erklärt, warum der Hilfsbedürftige gar keine Hilfe verdient. „Der ist selbst schuld.“ „Der ist halt ein Säufer.“ Idealerweise dreht man dieses Argument so weit, dass das Nichtstun zur wahren guten Tat wird: „Wenn ich ihm kein Geld gebe, kauft er weniger Schnaps; das ist gut für ihn.“ „Wenn ich ihm nicht helfe, ändert er vielleicht sein Leben.“

Ein ähnlicher Mechanismus könnte derzeit in der Flüchtlingskrise am Werk sein. Man sieht Menschen – viele Menschen! –, denen geholfen werden muss. Die etwas zu essen brauchen, eine warme Decke um die Schulter, Ruhe, Schutz, ein paar freundliche Worte.

Angesichts dieser Bedürftigkeit will man instinktiv etwas tun, fühlt einen Stich, den Impuls zu helfen, auch wenn es nur eine kleine Geste ist, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Dennoch tut man nichts, aus Angst, aus Unsicherheit, aus Überforderung oder einfach nur aus Bequemlichkeit.

Damit wird das Unbehagen immer größer. Und man wird es nur los, indem man sich und allen anderen laut erklärt, warum die Hilfsbedürftigen gar keine Hilfe verdienen. Weil sie – das weiß man ganz genau! – Hilfe gar nicht annehmen, sondern brüsk zurückweisen. Weil sie sich – der Bekannte einer Nachbarin hat das mit eigenen Augen gesehen! – beleidigend und respektlos benehmen. Weil sie – im Internet steht das ja überall! – bösartig, gefährlich, gewalttätig seien. Jedes grausliche Gerücht, das man hört und weitererzählt, erzeugt somit große Erleichterung: Gott sei Dank, ich habe recht! Es ist richtig, nicht zu helfen.

Mehr noch: Ich tue der Gesellschaft sogar etwas Gutes, indem ich nicht helfe! Denn wenn Menschen mit derartig viel krimineller Energie wieder zu Kräften kommen – man kann sich in allen Details ausmalen, welch verheerende Schäden sie anrichten würden!

Und schon geht es einem besser . . .

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2015)

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