Wir können jetzt genau das tun, was die Terroristen wollen

Terror will Angst, Abschottung, Misstrauen, Hass erzeugen und unsere Gesellschaft spalten. In diese Falle kann man gehen. Oder besser nicht.

Was wollen die Terroristen? Worüber freuen sie sich? Es ist nicht schwer, sich das vorzustellen. Zunächst wollen sie uns davon abbringen, das zu tun, was die Opfer von Paris vergangenen Freitag getan haben: ausgehen, Männer und Frauen gemeinsam, Musik hören, tanzen, essen, trinken, ausschweifen, Spaß haben. Terroristen freuen sich, wenn wir all das, was sie als „Unzucht und Laster“ brandmarken, aus Angst künftig meiden. Wenn wir zu Hause bleiben. Wenn wir unsere Kinder zu Haus einsperren, aus Sorge, es könnte etwas passieren.

Die Terroristen wollen, dass wir die Kontrolle über unser Leben verlieren. Sie hören mit stolzgeschwellter Brust zu, wenn unsere Politiker sagen, die Lage sei „außer Kontrolle“. Ebenso, wenn unsere Massenmedien „Alles außer Kontrolle!“ in großen Lettern auf die Titelseiten knallen. Alles außer Kontrolle? Was tun wir den Terroristen für einen riesigen Gefallen mit diesem Lob!

Die Terroristen wollen, dass wir aufhören, uns frei zu bewegen. Sie wollen, dass unsere Länder von Grenzen, Mauern, Zäunen und Stacheldraht zerschnitten werden. Dass wir in permanenter Verteidigungshaltung erstarren, ständig mit dem Finger am Abzug. Bis all die Freiheiten, auf die wir so stolz sind, die Reisefreiheit, die Versammlungsfreiheit, der freie Austausch mit Menschen verschiedenster Herkunft, Kultur und Sprache kaputt sind.

Die Terroristen wollen, dass wir uns verhärten, damit wir dem Feindbild, das sie von uns zeichnen, ähnlicher werden: abweisend, egoistisch, ignorant gegenüber den Problemen anderer Weltgegenden, mit allen Mitteln jeden kleinen eigenen Vorteil verteidigend, auf Kosten aller anderen Menschen. Die Terroristen wollen, dass wir eine Fratze zeigen, weil man diese Fratze noch besser hassen kann.

Die Terroristen wollen, dass bei uns Misstrauen und Zwietracht wachsen. Sie wollen uns dazu bringen, dass wir in jedem, der sich in der U-Bahn neben uns setzt, einen potenziellen Gewalttäter wittern. Sie freuen sich, wenn wir einander belauern, beobachten, belauschen, überwachen, bespitzeln und einander das freie Denken und Sprechen verbieten.

Die Terroristen wollen das Klima zwischen Muslimen und Nichtmuslimen vergiften. Sie wollen, dass jeder Muslim auf Schritt und Tritt Ausgrenzung, Gezische, Ablehnung und Zurückweisung spürt. Sie danken Allah für jeden Vorfall, bei dem einer Muslima das Kopftuch vom Kopf gerissen wird, und über jeden Muslim, der angespuckt oder attackiert wird. Sie freuen sich, wenn sich Muslime in westlichen Gesellschaften unverstanden, ausgegrenzt, geächtet fühlen. Denn unverstandene, ausgegrenzte, geächtete Menschen lassen sich viel leichter radikalisieren.

Speziell wollen sich die Terroristen an den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan rächen. Immerhin waren diese die ersten Opfer der Terroristen; die ersten, die vor ihnen davongelaufen sind, statt sich ihrem Schreckensregime zu unterwerfen. Die Flüchtlinge ergriffen mit ihrer Flucht offen Partei: gegen ein Leben mit dem IS oder den Taliban, für ein Leben im westlichen Europa.

Die Terroristen wollen mit allen Mitteln verhindern, dass das Einleben dieser Geflüchteten in unseren Gesellschaften gelingt. Je schlechter es den Flüchtlingen hier geht, desto größer ihre Genugtuung. Die Terroristen wollen schließlich, dass auch bei uns Hysteriker aller Art an Boden gewinnen. Sie freuen sich über jeden Politiker, jeden Leitartikler und jedes Hassposter, das Öl ins Feuer gießt.

Jedes haltlose Gerücht, jede pauschale Diffamierung, jede unfaire Schuldzuweisung spielt ihnen in die Hände. Die Terroristen wünschen sich nichts sehnlicher, als dass im von ihnen so gehassten Westen verantwortungslose Volksverhetzer die Schalthebel der Macht in die Hand bekommen. Denn das bedeutet Eskalation. Und das ist ihr Ziel.

Ich meine, wir sollten jetzt nicht das tun, was die Terroristen wollen. Sondern das Gegenteil.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2015)

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