Alkohol, Drogen: Es ist schwer, den Verlust alter Größe zu verwinden

Was ist bloß mit der weißen Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten los? Ihre Sterblichkeitsrate steigt wie einst bei den Russen nach dem Ende der Sowjetunion.

Global gesehen kommt es heute nur selten vor, dass die Lebenserwartung bestimmter Bevölkerungsgruppen sinkt. Meistens sind dafür Katastrophen verantwortlich: Kriege, lang andauernde Hungersnöte, neue, noch nicht behandelbare Krankheiten (wie vor 20 Jahren die Aids-Epidemie in Afrika). In der industrialisierten Welt schrieb sich in den vergangenen Jahrzehnten nur ein einziger Einschnitt sichtbar in die demografischen Daten ein: der Kollaps der Sowjetunion. Nach 1991 fiel die Lebenserwartung der Russen, vor allem der männlichen, gleich um mehrere Jahre. Depression, Alkohol, Selbstmorde und der Zusammenbruch des Gesundheitssystems waren schuld.

Seit einigen Wochen registriert man in den USA ein ähnliches Phänomen. Die Princeton-Ökonomen Angus Deaton und Anne Case, Ersterer jüngst mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, präsentierten bemerkenswerte Studiendaten: In allen Bevölkerungsgruppen Amerikas sinkt demnach die Sterberate, bloß in einer Gruppe passiert das Gegenteil: bei den 45- bis 54-jährigen Weißen, insbesondere jenen mit niedrigem Einkommen. Seither rätseln die USA: Was ist da los? Stirbt die weiße Arbeiterklasse nicht nur im statistischen Sinn des Wortes, sondern auch körperlich?

Konkret lässt sich die Gefährdung der mittelalten weißen Amerikaner auf ähnliche Faktoren zurückführen wie damals in Russland: Alkohol, Abhängigkeit von Schmerz- und Schlafmitteln, Drogen, Selbstmorde. Selbstschädigendes Verhalten also. Dinge, die man tut, wenn man mit dem Leben nicht zurechtkommt, sich überfordert fühlt.

Doch Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und sinkende Einkommen reichen als Erklärung für diese Verzweiflung nicht aus. Denn weder bei Schwarzen noch bei Latinos lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten – obwohl diese, statistisch gesehen, deutlich weniger verdienen und von der Krise noch stärker betroffen sind als Weiße. Die Lebenserwartung steigt bei ihnen dennoch stetig.

Konservative Kulturkämpfer sind mit einem Erklärungsmuster rasch bei der Hand: Sie machen den Liberalismus verantwortlich, samt dem „Niedergang traditioneller Werte“ – den sie am immer selteneren Kirchenbesuch festmachen, an steigenden Scheidungsraten sowie dem wachsenden Anteil unehelicher Kinder. Doch das sind allesamt Entwicklungen, die man überall in Westeuropa gleichermaßen beobachten kann – ohne dass sie sich in Depression oder gar frühzeitigem Tod niederschlagen würden.

Bleibt nur, die Erklärung im Relativen zu suchen. Im relativen Gefühl des Niedergangs – gemessen an dem, wovon man eigentlich gewohnt war, dass es einem zusteht. Hier hat die weiße Arbeiterschaft der Vereinigten Staaten über die Jahrzehnte tatsächlich viel verloren.

Von den 1950er- bis zu den 1970er-Jahren war sie die globale Trendsetterin – wohlhabend, gewerkschaftlich gut organisiert. Sie bestimmte die politische Agenda und setzte, was ihren Lebensstil und ihr Konsumverhalten betraf, Maßstäbe. Auf der ganzen Welt wurde sie nachgeahmt und bewundert. Sie verkörperte den American Dream.

Mit diesem Prestige, mit dieser Führungsrolle ist es vorbei. Erst wuchs der Dienstleistungssektor, dann der Finanzmarktkapitalismus, dann Silicon Valley – und in allen neuen Feldern, die sich ökonomisch auftaten, wehte der scharfe Wind der Konkurrenz durch Aufsteiger und Zuwanderer. Auch als Wählerschaft sind die weißen Arbeiter längst nicht mehr der Kern Amerikas, sondern bloß noch eine Gruppe unter vielen. Doch anders als andere Minderheiten haben sie nie Taktiken einüben müssen, um mit solchen Zurückweisungen und Frustrationen fertigzuwerden.

Mit ein bisschen Empathie kann man sich vorstellen, dass sich das wie eine Enteignung anfühlt. Dass es einem vorkommt, als sei der Faden der eigenen Biografie gerissen. Dass es einen zornig macht. Gut möglich, dass sich das im laufenden Wahlkampf um die US-Präsidentschaft zeigen wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2015)

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