Individualverkehr ohne Individuum: Ein Nachruf auf das Autofahren

Wenn man im Auto kaum mehr etwas selbst machen kann – warum fährt man dann überhaupt noch damit? Willkommen in den öffentlichen Verkehrsmitteln!

Individualverkehr. Wie verlockend das klang – einst, als man die Seitenfenster eines Autos noch mit der Hand herunterkurbelte und dann lässig den Arm rausbaumeln ließ. Mit dem Auto durfte man sich als Individuum fühlen: Du fährst, wohin du willst, so schnell, wie es dir gerade passt – ein grenzenloses Freiheitsversprechen.

Du und dein Auto, das waren zwei Persönlichkeiten, in unterschiedlichsten Arten von Beziehungen miteinander verbunden – wie Frischverliebte, wie beste Kumpels oder wie alte Ehepaare: leidenschaftlich, ständig genervt, routiniert höflich oder mit regelmäßigen Zornesausbrüchen. Halt einzigartig.

Und das Fahren erst! Autofahren war etwas Körperliches. Man spürte den Fahrtwind. Den kleinen mechanischen Widerstand, wenn die Kupplungsräder ineinandergriffen. Die Anspannung der Muskeln, wenn man beim Rückwärts-Einparken heftig das Lenkrad kurbeln musste. Die Vibrationen, wenn das Tempo stieg. Von draußen wehten Gerüche und Geräusche herein – mal roch es nach Gülle, mal nach Schornstein, mal nach Würstelstand.

Autotüren sperrte man mit Schlüsseln auf und schlug sie mit Kraft wieder zu. Scheibenwischer quietschten. Beschlagene Scheiben wischte man mit dem Ärmel ab. Wenn es kalt war, froren die Schlösser ein, und man kratzte mit klammen Fingern das Eis von der Windschutzscheibe. Es gab großartige Autofahrten, von denen man einander noch jahrzehntelang erzählte („Weißt du noch, als wir damals mit dem VW-Bus . . .?“), und schreckliche (über die es ebenso viel zu reden gab). Jede Fahrt war anders, zumindest in der Erinnerung.

Aber heute? Individuell ist am Autofahren gar nichts mehr. Das fängt bei der Hardware an. Schauen doch mittlerweile alle gleich aus, die martialischen Gehäuse aus gepanzertem Kunststoff, unterscheiden kann man sie bloß noch in der Preisklasse. Wohin geht's? Und wann sind wir endlich da? Das sagt einem das Navi. Für die Stimme aus dem Off leistet man bloß demütige Handlangerdienste, Widerstand ist zwecklos. Man kriegt ja eh kaum mit, wo man eigentlich ist – Autohüllen sind hermetisch dicht, Sommer von Winter und Wald von Stadt nicht mehr unterscheidbar, was, angesichts von Lärmschutzwänden hier wie dort, allerdings auch schon egal ist. Bei SUVs, warnen Autotester, sieht man wegen der stetig schrumpfenden Fensterflächen ohnehin kaum mehr raus.

Und das Fahren? Das darf man gar nicht mehr selbst. Jeder Handgriff wird von der Elektronik diktiert, auf Fehler kontrolliert und durch Piepsen bestraft. Vieles geschieht automatisch – vom Einstellen der Rückenlehne und Rückspiegel über ABS, Einparkhilfe, Totwinkelassistent bis zu automatischen Abstandhaltungssystemen. In diese Richtung wird es weitergehen. Autos werden, versprechen die Hersteller, zu mobilen Kommunikationszentralen hochgerüstet und fahren demnächst überhaupt so gut wie ferngesteuert. Dann muss man nicht einmal mehr Knöpfchen drücken oder über Touchscreens wischen, sondern bloß noch mündlich sagen, wo man hinwill – und wird vom Auto hingebracht.

Stellt sich allerdings die Frage, warum man sich für diese Art Fahrgefühl nicht gleich eine Fahrkarte hätte kaufen und in eine Straßenbahn setzen können. Auch in der Straßenbahn sitzt man in einem Metallgehäuse, fährt auf Schienen, lenkt nicht selbst, wird automatisch an seinen Zielort gebracht, ohne dass man sich um das Schalten, Bremsen und Gasgeben selbst kümmern muss. Bloß zwei wesentliche Unterschiede gibt es: Erstens schleppt dabei nicht jeder einzelne Passagier sinnloserweise ein tonnenschweres Gehäuse mit sich herum; zweitens kann man in der Tram hemmungslos auf dem Handy herumtippen.

Genau das denken sich offenbar immer mehr Menschen – zumindest an Orten, an denen der öffentliche Verkehr vernünftig ausgebaut ist. Erstmals hat in diesem Herbst die Zahl der Jahreskarten die Zahl der Pkw-Zulassungen in Wien überholt. Gut so.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann ist Journalistin Wien.

Ihre Website: www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2015)

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