Was wir von den verfemten Suffragetten lernen können

Es muss nicht so sein, wie es ist. Es geht auch anders. Häufig wird man erst einmal für verrückt erklärt, wenn man an die Veränderbarkeit der Verhältnisse glaubt.

Maud ist junge Frau, Mitte zwanzig wird sie sein. Sie hat einen fünfjährigen Sohn und einen netten Mann, sie leben in einer Einzimmerwohnung in einem Londoner Arbeiterbezirk. Das Kind bringt Maud jeden Morgen in die Obhut einer Nachbarin (damals sagte man noch nicht Tagesmutter dazu). Dann geht sie zur Arbeit in die Wäscherei. Konkret bedeutet das: die Hände stundenlang im Waschzuber, mit gebeugtem Rücken. Schrubben, wringen, scheuern, wuchten. Hitze und Kälte abwechselnd, Dampf, ätzende Bleichmittel, ständige Verkühlungen. „Man wird nicht alt in einer Wäscherei“, sagt sie; einige Kolleginnen tun diese Arbeit schon, seit sie sieben Jahre alt sind. Wenn dem Chef gerade danach ist, bestellt er sie in sein Büro und greift ihnen zwischen die Beine.

Mauds Leben ist ein Leben von der Hand in den Mund. Jeden Tag kann sie bloß hoffen, dass sich auch morgen wieder alles irgendwie ausgehen wird – mit dem Kind, mit der Arbeit, mit dem Mann, mit der Gesundheit, mit dem Chef. Maud ist angewiesen auf das Wohlwollen anderer. Sie kann praktisch nichts tun, um das, was mit ihr geschieht, zu beeinflussen. Denn verbriefte Rechte hat sie nicht. Wenn der Mann will, kann er sie von heute auf morgen verlassen und das Kind mitnehmen, es zur Oma aufs Land schicken oder gar zu fremden Leuten – denn er ist der alleinige gesetzliche Vormund. Wenn der Chef meint, sie sei nicht nett genug zu ihm, kann er sie, mit sofortiger Wirkung, einfach entlassen.


Ungerecht? Ja, das empfindet sie so. Aber ändern kann sie daran nichts, denn auf die Gesetze, die das so festschreiben, hat sie keinerlei Einfluss. Es gibt zwar Parteien, aber denen ist völlig egal, was Maud fordert, fühlt, argumentiert oder denkt. Denn Maud darf nicht wählen gehen im Jahr 1916. Sie ist eine Frau.

Vergangene Woche ist in den österreichischen Kinos der Film „Suffragette“ angelaufen, und er sei allen ans Herz gelegt, die glauben, es sei völlig selbstverständlich, dass Frauen Rechte haben. Nein, im Gegenteil: Es ist noch gar nicht so lang her, da war es völlig selbstverständlich, dass sie keine Rechte haben. Die wenigen, die trotzdem forderten, was wir heute für selbstverständlich halten, wurden als maßlos, schamlos, unweiblich, hysterisch, krank oder verrückt gebrandmarkt. Und zwar von ihrem gesamten Umfeld – den Ämtern, der Polizei, den Gerichten, in der Schule, von den Nachbarn, und häufig auch von ihrer eigenen Familie, den Eltern, dem Ehemann.


Woran sich, auch in diesem Film, eine interessante Frage knüpft: Woher nehmen manche Menschen die Fähigkeit und die Energie, über das, was ist, hinauszudenken? Sich eine andere Art von Wirklichkeit vorstellen zu können als jene, die rundherum existiert? Zumal die „Normalität“ es hart ahndet, wenn man sich weigert, sie als solche anzuerkennen. Im besseren Fall wird man ausgelacht. Im schlimmeren angefeindet, mit Liebesentzug bestraft, man wird ausgeschlossen aus dem Kreis der Zurechnungsfähigen, Gesellschaftsfähigen. An Mauds Beispiel sieht man, dass das die körperliche und psychische Existenz zerstören kann: Ihr Sohn wird zur Adoption freigegeben, sie selbst ins Gefängnis gesteckt, misshandelt und – als sie sich mit einem Hungerstreik wehrt – zwangsernährt. Wie in allen historischen Emanzipationsbewegungen stellt sich hier die Frage: War die abstrakte gerechte Sache, das Frauenwahlrecht, die Zerstörung der eigenen privaten Existenz wert? Wie viele Fortschritte hätte es allerdings gegeben auf der Welt, ohne solche persönlichen Opfer? (Andererseits blitzt an dieser Stelle auch ein Irrtum auf, der oft genug in der Geschichte verheerende Folgen hatte: Denn nein, es ist keineswegs so, dass eine Sache umso gerechter wird, je mehr Opfer ihr gebracht werden.)

Seit knapp hundert Jahren dürfen Frauen nun jedenfalls wählen, den Suffragetten sei Dank. Es wurden ihnen bisher viel zu wenige Denkmäler errichtet.

E-Mails an :debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann ist Journalistinin Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2016)

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