Nebenan ziehen Flüchtlinge ein. Was tun wir nun, Liesing?

Empören oder anpacken, lauten die beiden Möglichkeiten. Beide sind anstrengend. Aber eine ist wesentlich produktiver als die andere.

Nebenan sollen nun also Asylwerber einziehen. Nebenan – das ist in der Grellgasse in der Donaustadt, in der Siemensstraße in Floridsdorf oder in der Ziedlergasse in Liesing. Damit hat man nicht gerechnet, als man vor fünf Jahren dorthin zog. Man hat sich über die zweieinhalb Zimmer gefreut, die Einbauküche, den Grünblick, den kleinen Balkon. Doch nun sind die Bürger besorgt: Die Flüchtlinge kommen. Sie werden nebenan vor der Tür sitzen, rauchen, spielen, essen, reden. Wie wird das sein? Was wird sich ändern für mich? Was tun? Gehen wir nüchtern die Optionen durch.

Variante 1: Die besorgten Bürger empören sich. Über Regierung, EU, Bezirksvorsteher, Amerika, Parteien, Gutmenschen, Politiker, den ORF. Lange Nächte verbringen sie im Internet, googeln „Asylanten und Gewalt“, liken und teilen Grauslichkeiten aus aller Welt und staunen, wie viele Grauslichkeiten sofort zurückfluten. Ein Wahnsinn, das alles! Dann schreiten die besorgten Bürger zur Tat. Schreiben Postings und Rundmails, demonstrieren, malen Schimpfwörter auf Plakate, berufen Bürgerversammlungen ein, schreien dort möglichst laut.

Sie installieren Sicherheitsschlösser und Alarmanlagen, bauen einen Zaun zum Nachbargrundstück, am besten samt Flutlicht und Stacheldraht. Sie gründen Bürgerwehren, bleiben zu Trainingszwecken nächtelang wach, üben das Patroullieren, besorgen Schreckschusspistolen und Pfefferspray, lernen Nahkampftechniken.


Sobald die neuen Nachbarn da sind, muss man dann bloß noch die Kinder einsperren, die Jalousien herunterlassen und demonstrativ die Haustür verbarrikadieren. Kreuzt jemand zufällig das Blickfeld, schaut man so grimmig wie möglich. Man misst akribisch die Lautstärke, beobachtet per Fernglas, wer aus- und eingeht, überprüft den Inhalt der Müllkübel und holt bei jeder Gelegenheit sofort die Polizei. Irgendein Problem findet sich sicher, wenn man es sucht. Mit Fantasie fallen einem sicher noch tausend weitere Möglichkeiten ein, den Nachbarn den Alltag so mühsam wie möglich zu machen. Damit sie bloß nie auf die Idee kommen, gern in Liesing/Donaustadt/Floridsdorf zu sein.

Variante 2: Die besorgten Bürger verwenden dasselbe Ausmaß an Anstrengung, um sich zu informieren. Wie funktionieren Asylverfahren? Welche Rechte und Pflichten sind damit verbunden? Wer sind die Leute, die hier einziehen werden? Woher kommen sie? Mit wie viel Geld müssen sie auskommen, wo werden ihre Kinder in die Schule gehen, was könnten sie brauchen? Auch bei dieser Variante kann man Stunden im Internet verbringen – doch das Schöne ist, dass man nicht nur Gerüchte findet, sondern auch Berichte. Über den Krieg in Syrien, das Leben in Afghanistan: Interessant, was man alles erfährt! Sogar drei Sätze Arabisch kann man dort lernen. „Guten Tag“, „Wie geht's?“, „Wie heißt du?“: Gar nicht so schwer! Kann man eventuell sogar beim nächsten Tunesien-Urlaub anwenden!

Sobald die neuen Nachbarn da sind, probieren die besorgten Bürger diese drei Sätze einfach mal aus, samt freundlichem Gesichtsausdruck – und warten ab, was dann passiert. Wer Lust hat, kann natürlich noch mehr tun. Ein Fußballspiel organisieren, ein Picknick, eine Einladung zu Kaffee und Kuchen, eine kleine Führung durch die Nachbarschaft, ein bisschen Plaudern am Schulweg. Vielleicht findet man ja etwas, das einen verbindet – derselbe Beruf, dasselbe Hobby, Kinder im gleichen Alter. Vielleicht nicht. Dann kann man zumindest sagen: Man hat's probiert.

Am Ende ziehen wir Bilanz, völlig ideologiefrei. Beide Varianten kosten den besorgten Bürger etwa gleich viel Energie. Aber welche von beiden wohl dazu führt, dass sich die neuen Nachbarn rasch zurechtfinden, die Sprache lernen, unsere Gepflogenheiten verstehen und produktive Mitglieder der Gesellschaft werden? Welche von beiden das Leben in Liesing/Donaustadt/Floridsdorf angenehmer macht? Was für eine schwierige Entscheidung!

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2016)

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