Erdoğan wird euch nicht groß machen – er benützt euch nur

Die religiös-nationalistische türkische Regierung sieht in den Auslandstürken ihre fünfte Kolonne. Österreich darf nicht zulassen, dass diese perfide Taktik aufgeht.

Es fühlt sich wahrscheinlich gut an, Teil von etwas Größerem zu sein. Zum Beispiel, wenn man in der Brigittenau lebt, seit Jahrzehnten in derselben Zweizimmerwohnung, Substandard. Vier oder fünf Kinder hat man hier großgezogen. Hat hart gearbeitet auf der Baustelle, am Fließband, am Marktstand oder zog täglich in der Morgendämmerung los, um Büros zu putzen.

Man hatte schwielige Hände, chronische Kreuzschmerzen und manchmal Heimweh. Man hoffte, die Kinder würden ein bisschen mehr aus dem Leben in Wien machen, aber man wusste nie recht, wie man ihnen dabei helfen sollte. Hausaufgaben, Förderkurs, Schulabschluss? Das mussten die Kinder allein schaffen.

Selbst war man ja nie richtig angekommen in Wien. War ratlos, wenn ein unverständlicher Bescheid vom Amt kam, hatte Angst, sich eine Blöße zu geben, wenn man zu einer Sprechstunde vorgeladen wurde, und mied Gesellschaft außerhalb der vertrauten Umgebung, weil man stets fürchtete, etwas falsch zu machen.

Selten in den vergangenen Jahrzehnten hatte man, in der Brigittenau, das Gefühl, wichtig zu sein. Doch plötzlich ist da einer, der sagt: „Du bist nicht bloß ein armer Gastarbeiter in einer schmuddeligen Zweizimmerwohnung. Du bist noch etwas anderes: Du bist Türke. Du bist Teil von etwas Größerem. Deswegen bist du wichtig. Und ich brauche dich.“

Psychologisch gesehen, darf es einen nicht wundern, dass Präsident Recep Tayip Erdoğan unter türkischstämmigen Einwanderern in Österreich viele treue Anhänger hat. Etwa zwei Drittel jener, die hier an den jüngsten türkischen Wahlen teilgenommen haben, haben seine AKP gewählt. Grundsätzlich ist das noch nicht problematisch. Auch im Ausland lebende Österreicher wollen am politischen Geschehen in ihrer Heimat teilnehmen, fühlen sich ihren Parteien trotz Wohnortwechsels weiter verbunden, bestellen schon die Wahlkarten, um am ersten Oktobersonntag Alexander Van der Bellen oder Norbert Hofer ihre Stimme aus dem Ausland zu schicken. (Eventuell könnte man sich, im Fall dramatischer Ereignisse in Wien, sogar vorstellen, dass es vor der österreichischen Botschaft in London oder Berlin zu spontanen Kundgebungen österreichischer Bürger kommt.)

Doch bei Erdoğan ist das nicht alles. Er will nicht bloß alle paar Jahre die Wählerstimmen der Auslandstürken. Er will nicht bloß, dass sie die türkische Sprache und ein paar sentimentale Gewohnheiten von daheim bewahren. Was die Sache in diesem Fall gefährlich macht, ist: dass dieser Mann seine Landsleute in Europa gezielt für seine eigenen Machtinteressen instrumentalisiert. Ganz offen sagt er, dass er sie als fünfte Kolonne betrachtet: Als „unsere Stärke im Ausland“ bezeichnet er sie, als „unsere Macht außerhalb des Landes“, als „Stimme unserer Nation“.

Er schenkt ihnen Zuwendung, betraut sie im Gegenzug mit der Aufgabe, die Ehre der Nation – die er häufig mit seiner persönlichen Ehre gleichsetzt – zu verteidigen. Das Ziel ist nicht nur, den politischen Gegner (Weltliche, Kurden, Alewiten, Linke, Intellektuelle, Liberale) einzuschüchtern.

Sein Ziel ist es gleichzeitig auch, in Europa Zwietracht zu säen. Sein Ziel ist es, die Menschen türkischer Herkunft von ihren neuen Heimatländern zu entfremden, auf dass sie hier niemals wirklich ankommen mögen. Denn je stärker das Misstrauen, je größer die Konflikte und je tiefer die Risse in den europäischen Gesellschaften, desto schwächer werden diese Gesellschaften. Umso heller strahlt das autoritäre, religiöse Erlösungsversprechen Erdoğans – und umso mehr wächst seine Macht.

Diese perfide Strategie müssen alle vernünftigen Menschen in Österreich durchschauen und müssen sie durchkreuzen. Unsere Polizei, unsere Parteien, unsere Bürgerinnen und Bürger, inklusive den vielen Familien in den Brigittenauer Zweizimmerwohnungen, und zwar alle gemeinsam. Nein, Erdoğan wird niemanden von euch groß machen. Er benützt euch nur.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2016)

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