Wenn wir die perfekte Wahl wollen, wählen wir überhaupt nicht mehr

Situationselastisch zu entscheiden kann richtiger sein, als auf buchstabengetreuer Einhaltung von Regeln zu bestehen. Das gilt bei Wahlen wie auch im Leben.

Noch ein Versuch also, am 4. Dezember. Diesmal muss alles klappen. „Dafür wollen wir eine Garantie, am besten schon im Vorhinein“, sagen die Wahlkampfleiter, sagen die ermattenden Kandidaten, sagt der Innenminister, sagen die müden Wählerinnen und Wähler. Und der Verfassungsgerichtshof sagt es auch. Jede Möglichkeit der Wahlmanipulation muss ausgeschlossen sein. Nicht logisch, praktisch und nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen. Sondern theoretisch ausgeschlossen, mag diese Möglichkeit auch noch so weit hergeholt sein.

Nein, 99,9999-prozentige Sicherheit reiche nicht, sagte das Gericht. Wir fordern Perfektion. Perfektion ist ein hehres Ziel. Sie anzustreben zeugt von hohem Arbeitsethos.

Aber es gibt auch einen Punkt, an dem das Streben nach Perfektion ins Gegenteil kippt. „Summum ius, summa iniuria“, sagte schon Cicero, und meinte: Die Einhaltung sämtlicher formaler Detailvorschriften kann inhaltlich großes Unrecht erzeugen. Am leichtesten zu illustrieren ist dieses Perfektionsdilemma im Verkehr.

Selbstverständlich ist es wichtig, dass sich alle an die Verkehrsregeln halten. Aber stellen wir uns kurz vor, was passieren würde, würden das wirklich alle, ausnahmslos, immer tun. Wenn jemand einem plötzlichen Hindernis auf der Straße nicht ausweicht, weil er eine Sperrlinie nicht überfahren darf. Wenn das Auto brennt, aber der Lenker trotzdem weiterfährt, weil er sich in einer Halteverbotszone befindet. Nein, niemand wird auf der perfekten Einhaltung einer untergeordneten Regel bestehen, wenn klar ist, dass es in diesem Augenblick etwas noch Wichtigeres gibt.

Ähnlich ist das in der Medizin. Selbstverständlich müssen Ärzte und Ärztinnen bei jeder Behandlung so sorgsam wie möglich vorgehen. Darauf sind sie vereidigt, das ist ihr Job, und es entspricht unserem Sicherheitsbedürfnis. Aber wollen wir im Notfall tatsächlich jemandem ausgeliefert sein, dem totale Perfektion über alles geht? Einem Arzt, der womöglich einen lebensrettenden Schnitt nicht setzt, weil er nicht ausschließen kann, dass eine hässliche Narbe bleibt? Nur ja kein Risiko eingehen! Das könnte Schadenersatzforderungen nach sich ziehen! In den USA bekommt man eine Ahnung davon, wohin dieses Denken führt. Für die Patienten, samt ihrem Sicherheitsbedürfnis, ist das keine gute Nachricht.

Bei den großen Entscheidungen im Privatleben ist Perfektion ebenfalls keine brauchbare Richtschnur. Wer in jeder Lebenslage absolut sicher sein will, nichts falsch zu machen, wird erst entscheidungs- und später handlungsunfähig. Soll ich diesen Mietvertrag unterschreiben, oder wartet irgendwo noch eine bessere Wohnung auf mich? Wo ist der perfekte Job? Und wie finde ich endlich den perfekten Partner?

Die Wartezimmer der Therapeuten sind voller Menschen, die sich mit überzogenen Ansprüchen quälen – und im Alltag deswegen nichts mehr auf die Reihe kriegen. Wer eine Garantie braucht, dass in einer Beziehung nichts schiefgehen wird, muss allein durchs Leben gehen. Wer sich nur einen Moment lang vergegenwärtigt, was alles schiefgehen kann, wenn man Kinder in die Welt setzt, kriegt garantiert keine mehr.

Kein System ist perfekt, Restrisiken gibt es immer. Wichtig ist, damit vernünftig umzugehen – klar im inhaltlichen Kern, aber situationselastisch in den technischen Details.

In diesem Sinn gebührt jener viel gescholtenen Person, die an der Hotline des Innenministeriums empfohlen hat, bei den Wahlkuverts einfach mit Uhu-Stick nachzuhelfen, eigentlich Lob. Sie hatte das Wichtigste an der Sache im Blick: dass es beim Abstimmen darum geht, dass der Wählerwille klar erkennbar ist, und dass jede Stimme gezählt wird.

In diesem Sinn eine Vorhersage: Auch die Bundespräsidentenwahl am 4. Dezember wird nicht perfekt sein. Das ist gut so. Denn wenn wir auf die perfekte Wahl warten – dann wählen wir überhaupt nicht mehr.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2016)

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