Kopftuch oder Irokesenfrisur? Am besten Perücken für alle!

Die hundertste Folge der Kopftuchdebatte brauchen wir so dringend wie einen Kropf. Wichtig ist, dass Frauen selbstbestimmt leben. Was sie dabei tragen, ist egal.

Vorab: Als Feministin ist mir das Frauenbild, das durch das muslimische Kopftuch symbolisiert wird, zutiefst zuwider. Dass mit dem Körper einer Frau grundsätzlich anders umzugehen ist als mit dem Körper eines Mannes, dass er besonders verhüllt werden muss, weil von ihm permanente sexuelle Verführung ausgeht, dass Frauen sich in der Öffentlichkeit dezent verhalten sollen, um Männer nicht in Versuchung zu bringen, dass der Anblick seiner Ehefrau exklusiv ihrem Ehemann gehört – all das lehne ich aus voller Überzeugung ab.

Als Feministin, die an die Veränderbarkeit der Gesellschaft glaubt, freue ich mich daher über jede einzelne Frau, die ihr Kopftuch ablegt, auf die Schicklichkeitsregeln, die ihr ihre Religion gebietet, pfeift, ihre Sexualität frei auslebt und selbstbestimmt lebt. So selbstbestimmt wie ich.

Aber wenn ich das Grundprinzip der liberalen Demokratie richtig verstanden habe, dann geht es hierbei nicht darum, dass alle Menschen frei sind, genauso zu leben und zu denken wie ich selbst. Sondern darum, dass sie anders leben und denken können als ich. Und wenn andere Menschen, insbesondere andere Frauen, Selbstbestimmung anders definieren – und gläubige Musliminnen sein wollen, Punk, Hausfrau oder Rockerbraut – dann muss ich das akzeptieren. (Selbstverständlich nur, solange sie dabei niemand anderen an der Selbstbestimmung hindern und solange kein Druck auf andere ausgeübt wird, es ihnen gleichzutun. Ausdrücklich sei daher festgehalten, dass es in diesem Text ausschließlich um volljährige Frauen und freie Entscheidungen über einen persönlichen Lebensstil geht.)

Solange es in diesem Land also Frauen gibt, denen ihr Kopftuch oder ihre Irokesenfrisur wichtig ist, liegt mir deren Selbstbestimmung wesentlich mehr am Herzen als die Frage, was sie dabei auf dem Kopf tragen. Soll heißen: Jede gläubige Muslimin mit Kopftuch, die ihr eigenes Geld verdient und sich frei in der Öffentlichkeit bewegt, ist mir wesentlich lieber als eine, die den ganzen Tag zu Hause sitzt und wartet, dass ihr Ehemann nach Hause kommt. Eine muslimische Oberärztin mit Kopftuch ist mir wesentlich lieber als eine Muslimin, die wegen ihres Kopftuchs bloß im Reinigungsdienst des Spitals arbeiten darf. Eine Muslimin mit Kopftuch, die eine Straßenbahn steuert, ist ein weithin sichtbares Signal an alle: Schaut her, was Mädchen alles werden können. Solche Role Models brauchen wir noch viel mehr.

Dasselbe gilt meiner Meinung nach auch in besonders exponierten Bereichen, wie bei der Polizei oder im Schuldienst. Statt selbstbewusste, gläubige Frauen daran zu hindern, Mathematiklehrerinnen zu werden, wäre es wesentlich wichtiger, inhaltlich genauer hinzuschauen, welches Frauenbild im konfessionellen Religionsunterricht vermittelt wird.

Jede Muslimin, die unter ihrem Polizeikäppi ein Kopftuch trägt, trüge eine zweifache emanzipatorische Botschaft speziell in die eigene Herkunftscommunity. Erstens: Frauen sind Respektspersonen. Und zweitens: Dieser Staat schließt niemanden von vornherein aus. Du bist Teil davon. Und wenn du den Eid leistest, diesem Staat zu dienen, bist du herzlich willkommen, das zu tun, egal, wer du bist.


Historisch betrachtet, hat sich der britische Weg der sichtbaren Vielfalt im Staatsdienst denn auch als zielführender erwiesen als jener, den Frankreich oder die Atatürk-Türkei gegangen ist. Eine Grenze würde ich allenfalls beim Richteramt ziehen.

Eine Richter oder eine Richterin sitzt nicht als Individuum auf ihrer Bank, sondern als überpersönliche Vertreterin unserer Rechtsordnung. Indem sie ihren Talar überstreift, schlüpft sie quasi in eine Rolle, lässt für eine gewisse Zeit ihre individuellen Vorlieben ruhen und spricht ausschließlich im Namen des Gesetzes. Sichtbare Zeichen einer persönlichen weltanschaulichen Haltung würden hier stören. Doch auch dafür haben die Briten eine praktische Lösung erfunden: Perücken für alle.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2017)

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