Es geht um das Wohl der Kinder Richtig erkannt, Herr Vizekanzler!

Bei der Diskussion um Ganztagsschule und Ausbau der Kinderbetreuung für Kleinkinder wird auf individuelle Bedürfnisse der Kinder keine Rücksicht genommen.

Wir agieren nicht aus der Sicht der Lehrer, sondern aus der Sicht der Kinder!“ So postulierte der neue Vizekanzler, Reinhold Mitterlehner, im ORF-„Sommergespräch“. Würde er dies ernst meinen, so müsste er die Idee der Ganztagsschule rigoros ablehnen. Er müsste dieses Postulat ebenso auf die Themenbereiche Arbeitswelt und Familie ausdehnen. Beides sind seine Kernbereiche als aktueller Wirtschafts- und ehemaliger Familienminister.

Doch die reale Politik sieht völlig anders aus. Hier werden die Anforderungen der Arbeitswelt, die kaum zu Flexibilität und Entgegenkommen bei Mitarbeitern mit Betreuungspflichten bereit ist, als Leitlinie genommen und auf das Kindeswohl völlig vergessen. Da ist einmal die Ganztagsschule: SP-Ministerin Gabriele Heinisch-Hosek fordert diese, weil sie meint, Kinder aus sozial schwachen Familien seien dort besser aufgehoben als zu Hause. Warum dann alle dorthin gehen sollen, ist unklar. Außerdem sollen nach dem SP-Modell selbst Mütter und Väter von Kleinkindern möglichst Vollzeit arbeiten.

Es ist heftig zu bezweifeln, dass allen Kindern der ganztägige Aufenthalt im Klassenverband guttut. Eine Studie der steirischen Arbeiterkammer ergab, dass jeder fünfte Volksschüler(!) Opfer von Mobbing ist, in mehr als der Hälfte der Klassen wird gemobbt. Dies kann zu massiven gesundheitlichen Schäden führen, warnen Psychologen. Für einen ganztägigen Schulbetrieb sind unsere Schulgebäude mehrheitlich ungeeignet, für den nötigen Ausbau fehlt es an Geld.

Zusätzlich würden außerschulische Angebote, die den Kindern Freude machen und ihre Begabungen fördern, wegfallen, etwa Musikschule oder Sport. Für Kinder berufstätiger Eltern gibt es ja jetzt schon den Hort.

Ein weiteres Feld, bei dem das Kindeswohl keine Rolle zu spielen scheint, ist die außerfamiliäre Betreuung von Kleinstkindern: Das unsägliche „Bologna-Ziel“ der EU, wonach für ein Drittel der Kinder unter drei Jahren Krippenplätze zu schaffen seien, hat das Augenmerk von Qualität auf Quantität verlagert. Österreich erfüllt nämlich die Qualitätskriterien, die von Experten empfohlen werden, bei Weitem nicht. Kleinstkinder brauchen viel Zuwendung, daher sollte eine Betreuungsperson maximal drei Kinder betreuen. Sonst drohen psychische und physische Schäden. In der Realität sind es im Schnitt sieben Kinder, Krankenstände und Personalengpässe noch nicht eingerechnet. Das führt dazu, dass eine einzige Betreuerin bis zu 15 Kleinstkinder wickeln, füttern, beaufsichtigen und mit ihnen spielen soll!

Dies bedeutet nicht, dass manche Kinder mit einer solchen Situation gut zurechtkommen. Dass aber gesetzlich Gruppengrößen von acht und mehr Kindern vorgegeben sind, ist nicht zu rechtfertigen. Bevor man also an den Ausbau der Krippenplätze denkt, sollte man sich mit deren Qualität beschäftigen. Wenn dem Vizekanzler und Wirtschaftsminister das Kindeswohl wirklich ein Anliegen ist, dann sollte er in seinem Metier sofort aktiv werden. Er könnte etwa Anreize schaffen, dass Betriebe mehr auf Eltern und deren Verpflichtungen Rücksicht nehmen.

Die Zahl der bezahlten Pflegeurlaubstage sollte erhöht und je nach Kindesalter gestaffelt werden, denn Dreijährige werden nun einmal öfter krank als Vierzehnjährige. Betriebskindergärten sollten zum Standard größerer Firmen gehören. Kinderkarenz sollte so wie Bildungskarenz sowohl bei Müttern als auch bei Vätern als wichtige Lernerfahrung anerkannt werden und darf kein Karrierenachteil mehr sein, der bis zum Arbeitsplatzverlust führen kann. Insgesamt sollte dafür geworben werden, dass Vorgesetzte positiv auf Elternschaft reagieren und mehr Flexibilität zulassen.

Es muss sich endlich der Fokus ändern: Die Erwachsenen und die Arbeitswelt müssen auf die Kleinsten Rücksicht nehmen. Denn die Kinder dürfen nicht zu Opfern eines erstarrten und veralteten Arbeitsmodells werden!

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Dr. Gudula
Walterskirchen ist Historikerin und
Publizistin. Sie war bis 2005 Redakteurin der „Presse“, ist seither freie Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.