Europäische Werte: Die mühsam errungene Toleranz (1)

Die Toleranz ist zuletzt in Verruf geraten. Dabei ist ihre Geschichte in Europa erst kurz, und sie wurde mühsam errungen.

Es ist noch nicht lang her, da galt es als große Errungenschaft in Europa, dass jeder seine Religion frei wählen und sie auch ausüben durfte. Bis in die Neuzeit hinein war es üblich, dass jeder Untertan die Religion seines Grundherrn annehmen musste. Erst im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung setzte sich die Toleranz nach und nach in Europa durch. In Österreich brauchte es die Toleranzpatente von Kaiser Joseph II., der für alle Untertanen ihre freie Religionsausübung, auch für Juden und Moslems, sicherte. Toleranz im Sinn von „Duldung“ bezog sich vornehmlich auf die Religion.

Auch das 20. Jahrhundert war in Europa noch von Unfreiheit und Intoleranz geprägt, man denke nur an die atheistischen Diktaturen des Nationalsozialismus und Kommunismus. Bis 1989 wurden in den kommunistischen Diktaturen Osteuropas Andersdenkende drangsaliert und verfolgt. Für uns ist es seit Jahrzehnten nun selbstverständlich, dass man in Europa in weltanschaulicher und religiöser Hinsicht denken und glauben kann, was man will, ohne Repressalien oder Verfolgung fürchten zu müssen.

Doch mittlerweile stehen wir vor neuen Herausforderungen, die uns über die Toleranz, wie wir sie bisher zu verstehen gemeint haben, neu nachdenken lassen. Dabei gibt es zwei gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite sind wir in zunehmendem Maße mit einer Kultur konfrontiert, die diese Form der Toleranz nicht (mehr) kennt.

Es gab Zeiten, in denen islamisch geprägte Länder wesentlich toleranter, etwa in Hinblick auf andere Religionen, als die europäischen, christlich geprägten waren. Heute kippt ein Land nach dem anderen ins Gegenteil, Christen, Juden und selbst Muslime anderer Glaubensrichtung werden verfolgt, unterdrückt oder gar getötet. Wie gehen wir in Europa nun mit Menschen um, die in dieser Weise geprägt wurden? Können wir sie „umpolen“, indem wir ihre Haltung ganz einfach tolerieren, wie jede andere auch? Werden sie dadurch toleranter, indem wir sie einfach gewähren lassen?

Seit dem 20. Jahrhundert hat sich der Toleranzbegriff stark erweitert und wird auf alle möglichen Gruppen angewendet und von diesen eingefordert. Es gibt eine sich seit Jahrzehnten verstärkende Strömung, die Toleranz mit Beliebigkeit verwechselt. Hier wird der Toleranzbegriff überdehnt. Alles ist erlaubt, alles gleich – daher egal. Dabei gehen Orientierung und Grundwerte verloren, auf die sich eine Gesellschaft als ihr Ideal, ihr Ziel oder ihren Grundkonsens geeinigt hat. Diese Haltung zeigte sich etwa bei der „Homo-Ehe“, die eben nicht mit Toleranz gegenüber Homosexuellen gleichzusetzen ist, sondern die Ehe beliebig und austauschbar macht.

Generell fällt auf, dass jene, die Toleranz besonders heftig einfordern, oft zu keinen Zugeständnissen an Andersdenkende bereit sind, ja nicht einmal zu Respekt gegenüber anderen Meinungen. Ohne Respekt für Andersdenkende, ohne Grundwerte wird die Toleranz aber pervertiert. Grundvoraussetzung für eine pluralistische Gesellschaft, Demokratie und friedliches Miteinander sind feste Überzeugungen.

Diese Grundwerte kann und darf allerdings kein Staat definieren oder verordnen, sondern sie beruhen auf einer persönlichen Ethik, einer inneren Gewissensüberzeugung. Das Fundament einer demokratischen Gesellschaft sind die Menschenrechte. Es ist aber nicht die Aufgabe des Staates, uns zu guten Menschen zu machen, sondern die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten. Wenn ein Staat aber seinen Bürgern Ethik verordnen und ihr Denken bestimmen will, geht das schief und endet in Totalitarismus.

Wo jemand den Rechtsstaat infrage stellt, hat die Toleranz ein Ende. In Hinblick auf die Toleranz werden wir uns aber auch der schwierigen Wahrheitsfrage neu stellen müssen: Welche Werte sind wahr, menschengerecht und menschenwürdig? Für dieses Fundament gilt es dann überzeugt einzutreten. Intoleranz hat jedenfalls noch nie Probleme gelöst. Sie würde unser Gesellschaftsgefüge bedrohen und auseinanderbrechen lassen.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Dr. Gudula
Walterskirchen ist Historikerin und
Publizistin. Sie war bis 2005 Redakteurin der „Presse“, ist seither freie Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.

www.walterskirchen.cc

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2016)

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