Wer durchschaut Ceta? Wenn Meinung die Sachkenntnis ersetzt

Bei Ceta geht es Politikern so wie uns Bürgern mit der Steuererklärung oder dem Handyvertrag: Sie sollen etwas unterschreiben, was sie nicht überblicken.

Hand aufs Herz: Haben Sie genau verstanden, worum es bei Ceta, dem Freihandelsvertrag der EU mit Kanada, geht? Es wird zwar ständig darüber diskutiert, aber ich habe noch immer nicht verstanden, warum das Abkommen so vehement befürwortet oder abgelehnt wird. Ich bewundere die 14.000 Mitglieder der SPÖ und die Abgeordneten des wallonischen Regionalparlaments, die mit Bestimmtheit wissen, dass sie es nicht wollen. Und ich habe Hochachtung vor den Funktionären der Industriellenvereinigung und Vertretern der Mehrheit der EU-Länder, die sicher sind, dass das Abkommen segensreich wirken wird.

Da ich trotz monatelanger Berichterstattung immer noch unentschlossen bin, ob ich dafür oder dagegen sein soll, wollte ich mich auf den Fall einer Volksabstimmung vorbereiten und mich rechtzeitig informieren. Dazu befragte ich einige Menschen, von denen ich mit Sicherheit annahm, dass sie mir weiterhelfen könnten. So fragte ich einen Wirtschaftsexperten, der jahrzehntelang die Regierung beraten hatte, nach seiner Einschätzung. Er meinte, zuerst sei er dafür gewesen, nun aber wegen der Schiedsgerichte eher dagegen. Aber sicher sei er sich nicht. Mit dieser Einschätzung ließ er mich ratlos zurück.

Ich interviewte einen Spitzenjuristen, der Mitglied der Führungsetage einer prominenten internationalen Wirtschaftskanzlei und Spezialist für internationale Verträge ist: Er verfolge zwar die Berichterstattung, durchschaue das Ganze aber auch nicht völlig, gestand er. Daher könne er mir keinen Rat geben. Nun bin ich trotz Befragung von Experten genauso unentschlossen wie zuvor und kann nur hoffen, dass es zu keiner Volksbefragung kommt.

Allerdings frage ich mich, wie die europäischen Regierungen und Parlamentarier, die ja das Abkommen ratifizieren müssen, zu ihrer Position kommen, wenn selbst Experten unsicher über Vorteile und Risken sind? Aber Ceta ist nur ein prominentes Beispiel dafür, wie es uns Normalbürgern schon seit Jahren in zunehmendem Maße geht. Wir müssen Entscheidungen treffen und unser Leben nach Normen und Gesetzen ausrichten, die wir nicht mehr überblicken und verstehen. Dennoch tragen wir in vollem Ausmaß die Konsequenzen und können – im Gegensatz zu Politikern – auch zur Verantwortung gezogen werden.

Durchschauen Sie etwa die österreichischen Steuergesetze? Dennoch unterschreiben Sie alljährlich Ihre Steuererklärung, wodurch Sie bei falschen Angaben haften. Der Steuerberater übernimmt die Konsequenzen nicht. Kennen Sie alle Bauvorschriften? Falls Sie einen Umbau oder gar Neubau vorhaben, können Sie sich nicht auf Ihren Baumeister oder Architekten verlassen, denn sie überblicken das immer kompliziertere und sich ständig ändernde, in jedem Bundesland variierende Regelwerk selbst nicht mehr.

Ja nicht einmal bei Abschluss eines neuen Handyvertrags weiß man über sämtliche Klauseln, Zusatzvereinbarungen und das viele Kleingedruckte Bescheid. Trotzdem unterschreiben wir. Im Wirtschaftsleben haben sich Unternehmen längst daran gewöhnt, einen erheblichen Betrag für Anwaltskosten einzuplanen. Es ist ein deutliches Zeichen für die immer kompliziertere und undurchschaubarere Welt der Wirtschaft, dass ausgerechnet Wirtschaftskanzleien enorm expandieren und hochprofitabel sind.

Also geht es den europäischen Politikern im Fall von Ceta nicht anders als einem Steuerzahler oder einem Bürger, der einen Handyvertrag abschließt: Sie sollen etwas entscheiden und unterschreiben, was sie nicht durchschauen und dessen Konsequenzen sie nicht wirklich abschätzen können.

Vielleicht veranlasst sie das dazu, die Gesetzesflut einzudämmen und Regelwerke zu entrümpeln, die niemand mehr überblickt und damit auch nicht befolgen kann. Die Bürger würden aufatmen, die Gerichte entlastet, die Experten könnten wieder fundiert Auskünfte erteilen und die Anwälte hätten auch sonst noch genug zu tun.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Dr. Gudula
Walterskirchen ist Historikerin und
Publizistin. Sie war bis 2005 Redakteurin der „Presse“, ist seither freie Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.

www.walterskirchen.cc

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2016)

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