Sandy und die wundersame Angst

Der Hurrikan Sandy hat Teile der Ostküste der USA in eine "Kriegszone" verwandelt: Zerstörung, Stillstand des normalen Lebens. Da war selbst ein sicheres Hotelzimmer keine angstfreie Zone mehr.

Wieso kann etwas, das persönlich keine unmittelbar physische Gefahr bedeutet, so viel Angst machen wie der Hurrikan Sandy an Amerikas Ostküste in den letzten beiden Tagen? Wieso fühlt man sich in einem absolut sicheren Hotelzimmer, in dem zwar das Wasser durch das Fenster gepeischt wird und bald durch die Hälfte des Raumes kriecht, so bedroht?

Ich konnte mir das nur so erklären: Wir in Europa haben keine Erfahrung mit Naturkatastrophen, die sich tagelang vorher ankündigen; deren Entwicklung zuerst täglich und dann stündlich alles beherrscht. Welche Stärke hat der Hurrikan über den Atlantik, wann wird er auf Land treffen, wann ist der Zeitpunkt gekommen, in dem das normale Leben zum Stillstand kommt und nichts wichtiger ist, als Schutz und Sicherheit zu finden?

Dass es wirklich schlimm werden kann, merkt man in einem Hotel als erstes daran, dass das Personal im Haus bleiben muss und nicht zu den Familien kann. Da taucht zum ersten Mal das Gefühl auf, jetzt gefangen zu sein. Das Hotel nicht verlassen, weil die Bäume dem Sturm nicht mehr standhalten können; ununterbrochen die Medien verfolgen, wo sich gerade das "Auge" des Hurrikans befindet und was die Richtung des Sturms bedeuten kann und wird. Da baut sich, natürlich verstärkt durch die Sensationsberichterstattung, eine Intensität an Spannung auf, die mit der realen Gefahr, in der man sich eben nicht befindet, schon gar nichts mehr zu tun hat. Was bedeutet denn schon das Gefühl, gefangen zu sein, im Vergleich zu der Zerstörung und der Gefährdung, der zum Beispiel die Patienten des Spitals der New Yorker Universität ausgesetzt waren, als der Strom und der Notgenerator ausgefallen sind? Nichts, absolut nichts.

Die wundersame Angst taucht aber nicht nur bei den Berichten über die Verheerungen anderswo auf. Sie ist auch da, wenn die Baumkronen vor dem Hotel waagrecht dem Sturm trotzen; und sie wird durch das Gespenstische der Geisterstunden genährt, in denen die Straßen menschenleer sind und sich die Autos nicht wie üblich auf mehreren Fahrbahnen in die eine oder andere Richtung stauen.

Für die Vorbereitung auf das kommende Desaster ist eine tagelange "Vorlaufzeit" selbstverständlich von Vorteil wie New York bewiesen hat, für das eigene Nervenkostüm weniger, denn die Anspannung steigt stündlich vor dem großen "Ungewissen".

Es wäre aber nicht Amerika, könnte man dann nicht auch Kommentare wie diesen hören: 37 Tote seien doch nicht viel, so viele Menschen stürben auf den Straßen der USA doch täglich. Und außerdem könnte Sandy auch etwas Gutes bringen, wenn endlich die mancherorts inferiore Infrastruktur - Straßen, Brücken, Tunnel - erneuert werden müssen.Das ist aber eine Sicht der Dinge, die  während des Sturm wohl kaum jemand geteilt haben wird.

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