„Mutti“ Merkel und die starken Männer

Es liegt an der deutschen Kanzlerin, Führungsverantwortung für das einfallslose Europa zu übernehmen.

Unangefochten in Deutschland, herausragend in Europa: Angela Merkel hat keine Rivalen, die sie fürchten müsste; ihr Wort ist entscheidend, wenn in vier Tagen der Ratspräsident und der neue EU-Außenminister benannt werden. Angela im Sonnenlicht des Glücks? Eher im Winternebel. „Die volle Wucht der Krise wird uns erst 2010 erreichen“, sagt sie. Die vier Jahre, die vor der Kanzlerin liegen, werden grimmig sein.

„Wer Merkel unterschätzt, hat schon verloren“, warnt Bayern-Chef Horst Seehofer – auch er ein leidgeprüftes Opfer Merkel'scher Manöver. Die Dame, die von Anfang an so demonstrativ auf das Gegockele der politischen Männerwelt verzichtete, versteht ihr Handwerk. Die Ausgetricksten revanchierten sich, indem sie ihr die Diminutivplakette „Mutti“ anklebten. Merkel kratzt das nicht.

Die Kanzlerin weiß, auf welch tönernen Füßen die Steuersenkungsversprechen der schwarz-gelben Koalition beruhen. Ihr ist bewusst, wie sehr das Bemühen um soziale Balance entscheidend dafür sein wird, am 9.Mai die Schlüsselwahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) zu bestehen. Merkel weiß auch, welche Gewitterfronten ihre Regierung unvermeidlich treffen werden. Das alles erklärt ein Stück ihres Personaltableaus.

Die Gesundheitsreform als der sozial weitaus sensibelste Bereich wurde dem jungen FDP-Hoffnungsträger Philipp Rösler anvertraut. Der 36-Jährige, ein vor Jahrzehnten adoptiertes katholisches Waisenkind aus Vietnam, bringt den frischen Blick des erfolgsprogrammierten Aufsteigers ins Amt.

Karl-Theodor zu Guttenberg, derzeit hellster Stern am Politikerhimmel, wurde Verteidigungsminister. Ihm, der seine Glaubwürdigkeit der Fähigkeit verdankt, unbeliebte Wahrheiten charmant zu sagen, wird es obliegen, in der Afghanistan-Frage die weltpolitische Verantwortung Deutschlands mit den pazifistischen Seelenneigungen vieler Landsleute auszubalancieren.

Am wichtigsten war Merkels Entscheidung, den erfahrensten Allrounder ihrer Mannschaft, Wolfgang Schäuble, mit dem Finanzministerium zu betrauen. Es ist nicht nur das einzige Ministerium mit Vetorecht, es wird auch die Schlüsselrolle dabei spielen, der Gefahr einer Zerrüttung der Staatsfinanzen zu begegnen. Schäubles Ernennung hat unter Europas Experten Aufatmen bewirkt. Für die großen Mitbewerber in der EU lautet das Signal: Deutschland wird ab 2011 mit der Konsolidierung tatsächlich beginnen – zu groß wären andernfalls die Gefahren für die Euro-Zone.

Für den politischen Kalender heißt das: vor den Landtagswahlen in NRW wird Merkel noch allerlei Wohltaten vollbringen – diese Wahl muss erst gewonnen werden. Verlöre die schwarz-gelbe Landesregierung in Düsseldorf, wäre Merkel ihre Bundesratsmehrheit los und müsste nur mehr gegen Oppositionsblockaden in der Ländervertretung kämpfen. Doch nach der Zeit des Lavierens bis zum 9. Mai wird die Zeit der harten Wahrheiten beginnen. Die Hoffnung Deutschlands, die unermesslichen Schuldenberge durch forciertes Wachstum zu verringern, ist nichts als eine Hoffnungswette.

Wird die Rechnung aufgehen? Skepsis bleibt angebracht. Denn so sehr es der Physikerin Merkel mit ihrem naturwissenschaftlich geprägten Verstand („Die Dinge vom Ende her durchdenken“) immer wieder gelungen ist, Probleme zu entschärfen: Diesmal geht es um mehr – um Lösungen, die Besitzstände und Gewohnheiten tangieren.

Das gilt für Deutschland und Europa insgesamt. Die Tiefe des globalen Wandels, die unausgestandene Finanzkrise, die Folgen der Erderwärmung und der Alterungsprozesse in Europa erlauben kein Business as usual. Doch der Blick der meisten europäischen Akteure wird allzu sehr davon bestimmt, nur nicht über die Löcher und Klüfte im jeweils eigenen Haus zu stolpern. Das gilt auch für Merkel. Vom „Fahren auf Sicht“ sprechen die milden Kritiker.

Keine kohärente Energiepolitik

In der Post-Lissabon-Depression suchen viele EU-Mitglieder Ruhe und Erholung. Doch eine solche Atempause wäre fehl am Platz. 2010 wird durchaus kritisch werden. Der jüngste Zusammenbruch von CIT, einem der größten amerikanischen Immobilienfinanzierer, ist kaum als Alarmsignal verstanden worden. Nach der Subprime-Krise von 2007 auf dem privaten Häusermarkt droht 2010 in den USA eine folgenreiche Krise bei den Gewerbeimmobilien. Kredite über mehr als 500 Milliarden Dollar werden fällig, das könnte weitere 1000 Regionalbanken in die Pleite stürzen.

Nicht gebannt ist auch die Gefahr einer veritablen Dollarkrise. In der gigantischen Explosion der US-Staatsschulden stecken enorme Risken für den globalen Anleihemarkt und (in der Folge) für den Welthandel. Man muss auch an latente geopolitische Gefahren denken: die Möglichkeit einer Unterbrechung der Ölversorgung aus dem Nahen Osten; oder Putins beliebtes Spiel, die Nerven der Europäer durch eine vorübergehende Drosselung der Gasversorgung im Dauerstreit mit der Ukraine zu testen. Bis heute verfügt die EU über keine kohärente Energiepolitik. Stattdessen verharrt sie auf dem Status eines Hühnerhaufens. Das kurzfristige nationale Interesse obsiegt über das langfristig-strategische der Staatenunion. Gleiches gilt für den Klimaschutz.

Millionen Wähler spüren, dass die Relevanz der nationalen Demokratie für die globalen Entscheidungen von Jahr zu Jahr zurückgeht. Die bisher fruchtlosen Bemühungen um eine internationale Finanzaufsicht zeigen das ebenso wie das jüngste Opel-Fiasko der deutschen Politik. Das Missverhältnis zwischen den alten Machtritualen in den Hauptstädten Europas und der Wirklichkeit, die dort noch national gestaltet werden kann, wird immer größer. Wie sich in nur einem Jahr die Macht von den G7- zu den G20-Staaten verschoben hat, ist atemberaubend. Europas Spitzenpolitiker zählen international nur mehr zur zweiten Garde. Wenn sie es vermeiden wollen, zu Duodezfürsten zu werden, müssen sie den Mut haben, sich auf starke EU-Anführer einzulassen.

Doch das Gegenteil steht uns bevor. Wie sich einst die Kurfürsten des Reiches auf schwache Königskandidaten einigten, um ihre eigene Macht zu sichern, sind auch die EU-Kurfürsten von heute offenbar gewillt, eher schwache Figuren zu ihren Spitzenvertretern zu machen, um solcherart die Europapolitik auch künftig von der eigenen Hauptstadt aus zu steuern. Käme es so, verspielte Europa die neue mögliche Dynamik, die der Lissabon-Vertrag eröffnet.

Leider gilt das auch zunehmend für Deutschland. Merkel reißt sich nicht darum, Europas „starke Männer“ anzuführen. Die Europa-Leidenschaft eines Helmut Kohl ist verschwunden. Merkels Europagefühl gleicht der „Herzenswärme eines Buchhalters“, schreibt Roger Cohen (in der „New York Times“). Europa leidet nicht an zu vielen Visionen, sondern an zu wenig Inspirationen und Impulsen.

Festklammern am Status quo

Nicht der Lissabon-Vertrag ist das Hauptproblem Europas, sondern das Sich-Festklammern am Status quo und das Nicht-Reagieren auf eine Welt im Wandel. Der Lissabon-Vertrag kommt faktisch um zehn Jahre zu spät. Endlich tritt er zwar in Kraft, man sollte aber nicht wie nach dem Ringtheaterbrand rufen: „Majestät, alles gerettet!“

Im Grunde liegt es an der starken deutschen Kanzlerin, in dieser Situation der Einfallslosigkeit gemeinsam mit Sarkozy die Führungsverantwortung zu übernehmen. Das bedeutet auch, eine gemeinsame Sicht auf wichtige Zukunftsaufgaben herbeizuführen: Energiesicherheit, Russland, die künftigen Balkanmitglieder. Hic Rhodos, hic salta. Wer sonst hat noch genügend Restautorität, Europas Selbstmarginalisierung zu beenden?

Dr. Paul Schulmeister war von 1972 bis 2004 beim ORF, insgesamt 15 Jahre Deutschland-Korrespondent in Bonn und Berlin und ist seither freier Journalist in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2009)

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