„Realpolitik“ ohne Weitblick – eine Torheit der Regierenden

Umgang mit Tyrannen. Arabische Aufstände und Europas Blindheit. Scheinstabilität und Geschäfte galten mehr als Demokratie und Menschenrechte.

Man kann sich zwar auf Bajonette stützen, doch nicht auf ihnen sitzen. Diese altspanische Spruchweisheit haben jene westlichen Regierungen verdrängt, die in der Vergangenheit arabische Despoten zum Zweck unterstützten, die „Stabilität“ in einer strategischen Schlüsselzone zu bewahren. Welcher Irrtum!

Jeder westliche Staats- und Regierungschef, der zu Gaddafi kam, wusste, welchen Gewaltherrscher er da hofierte. Die einen versuchten, Gaddafi als einen „halt bizarren Exzentriker“ ein wenig zu entdämonisieren. Andere, wie Anwar as-Sadat, charakterisierten ihn im kleinsten Kreis durchaus als „geisteskrank“. Keinem war unbekannt, dass dieser „Bruder Revolutionsführer“ Verkehrsflugzeuge sprengen, eine Berliner Diskothek zerbomben ließ und Terroristen weltweit finanzierte.

Als sich Gaddafi ab 2003, erschreckt vom Ende Saddam Husseins, nach außen hin zu mäßigen begann, seine Atomwaffenpläne aufgab und seine Giftgasvorräte zu beseitigen versprach (was nur zum Teil geschah), da strich Amerika nach einer Probezeit Libyen von der Liste seiner „Schurkenstaaten“. Schon vorher hatten europäische Politiker und Wirtschaftsleute aufatmend mit ihren Aufwartungen in Tripolis begonnen.

Gaddafi die Hand geküsst

Gaddafi schien für regionale Stabilität zu stehen. Man konnte den Wüstenherrscher – gegen Geld, versteht sich – davon überzeugen, den Strom schwarzafrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge zu stoppen, bevor diese das Mittelmeer nordwärts überquerten. Lag das nicht im Interesse der EU?, fragten viele Bewohner unserer Wohlstandsfestung. Noch beim letzten EU-Afrika-Gipfel im vergangenen November versuchte Gaddafi, die Europäer mit der „Flüchtlingswaffe“ zu erpressen. Er forderte weitere Milliarden, sonst werde sich Europa in einen „Schwarzen Kontinent“ verwandeln. So drohte der Mann den Granden der EU, die er offenbar für käuflich und feige hielt. Berlusconi nannte Gaddafi seinen „Freund“, küsste ihm sogar – in einer einmaligen Geste der Untertänigkeit – die Hand.

Warum machte Europa eine derart klägliche Figur? Neben Sicherheits- und Stabilitätserwägungen gab es dafür vor allem einen Grund: das gute, nahe Öl, das Libyen produziert. Da vergaß man gern, wie das gleiche Regime 1996 einen Gefängnisaufstand in Tripolis beendet hatte. Von den Dächern herab feuerten die Wachmilizen auf die eingepferchten Gefangenen am Boden. 1200Tote zählte man am Ende dieses Tages. Nie wurde das Massaker aufgeklärt.

Im latenten Zielkonflikt „Stabilität versus Menschenrechte“ hat der Westen in den letzten Jahren ohne Zweifel versagt. Das Stabilitätsversprechen der verbündeten arabischen Despoten bedeutete für deren Länder Unfreiheit und Stillstand – ein unhaltbarer Widerspruch zur Globalisierung und zum grenzenlosen Informationsaustausch im Internetzeitalter.

„Realpolitik“ gilt weithin als die Schmutzseite der Politik. „Er ist vielleicht ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn“, soll US-Präsident Roosevelt 1939 über Anastasio Somoza gesagt haben. Der nicaraguanische Diktator hatte wegen seiner Kommunistenjagd die Gunst Amerikas genossen.

Kein Platz für Gesinnungsethiker

Staatspolitik wird nie dem Dilemma zwischen Interessenorientierung und Wertegebundenheit entkommen. Erstere wird mitunter moralisch aufgehübscht („Sie sagen Christus und meinen Kattun“, hieß dazu ein englisches Spottwort des 19.Jahrhunderts).

In der Politik sind Gesinnungsethiker fehl am Platz, hat Max Weber in seinem berühmten Vortrag von 1919 festgehalten. „Der Verantwortungsethiker rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten des Menschen, [...] er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen.“ Für Weber scheitert der gesinnungsethische Politiker am Problem der Heiligung der Mittel durch den Zweck.

Und noch schärfer formuliert er: „In der Welt der Realitäten machen wir stets erneut die Erfahrung, dass der Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, dass z.B. diejenigen, die soeben ,Liebe gegen Gewalt‘ gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen – zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde...“

Es geht nicht immer nur ums Öl

„Kein Blut für Öl!“, schrien einst hunderttausende Demonstranten in ihrem Protest gegen die Irakpolitik der USA. Doch es ging nicht nur ums Öl. Henry Kissinger, die klassische Figur eines Realpolitikers, distanzierte sich stets von bloßer Machtpolitik und beteuerte: „Auch als Realpolitiker braucht man Werte, auf deren Basis man handelt. Ich unterscheide zwischen Realpolitik und idealistischer Außenpolitik.“

Außen- und Sicherheitspolitik werden immer ein Balanceakt zwischen Idealen und Interessen bleiben. Doch im Verhältnis zu den arabischen Tyrannen stand der Westen nicht vor der Alternative „opportunistisches Appeasement“ oder „Hilfe für die Freiheitsrevolutionäre“. Es war Europa, das sich viel eindeutiger zu Arrangements mit Diktaturen bereitfand als Amerika. Deren „Freedom Agenda“ ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht zu verkennen. Daran ändert die Doppelmoral nichts, die sich auch Washington zuschulden kommen ließ.

US-Aufruf zu freien Wahlen

„Freiheit in unserem Land erfordert den Triumph der Freiheit in allen anderen Ländern“, so Präsident Bush 2005 bei seiner zweiten Amtseinführung. Wenige Monate später rief Außenministerin Condoleezza Rice Ägypten zu freien und fairen Wahlen auf. 60Jahre hätten die USA im Nahen Osten Stabilität auf Kosten der Demokratie verfolgt – bekommen hätten sie keines von beidem. „Jetzt schlagen wir einen anderen Weg ein. Wir unterstützen die demokratischen Aspirationen aller Leute“, so Rice in ihrer Rede an der Amerikanischen Universität in Kairo.

Vor nicht einmal zwei Jahren bekräftigte Präsident Obama, ebenfalls in Kairo, diesen Kurs. Im Alltag der US-Außenpolitik war davon zwar wenig zu sehen, doch es waren Mubarak, Ben Ali und andere, die eine Chance verpassten, nicht Bush oder Obama.

Legitime, illegitime Regierungen

Man darf auch nicht vergessen, wie viele US-Dollars in arabische Bildung und Stipendien fließen. Nicht als Ausdruck von Philanthropie, sondern weitblickend zum Selbstschutz Amerikas gedacht.

„Langfristig“, so Condoleezza Rice in einem „Zeit“-Interview (24.2. 2011), „werden unsere Interessen besser von solchen Regierungen bedient, die von ihren Völkern als legitim betrachtet werden. Illegitime Regierungen können womöglich unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber wenn sie ihren Völkern keine Arbeit verschaffen, keine Teilhabe gewähren, wird das auf uns zurückschlagen.“

Realpolitik heißt nicht zwangsläufig, die eigenen Werte den eigenen Interessen nachzuordnen, sondern, bei aller Beachtung von Demokratie und Menschenrechten, die Welt zu nehmen, so wie sie ist. Werte-Rhetorik allein ist keine Politik.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2011)

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