Lebensfahrt beginnt mit weiten Segeln der Hoffnung. Und dann?

Vorösterliche Gedanken. Über das Seinsvertrauen und das Lachen der Kinder. „Unter der Asche ist Feuer, man muss nur etwas Luft dazugeben“ (Arvo Pärt).

Hoffnung, so hat der Theologe Josef Pieper einmal geschrieben, sei die Tugend des „Noch nicht“. In ihr versteht sich der Mensch „auf dem Weg“, darauf vertrauend, dass es für ihn letztlich gut ausgeht. Der abgründig Verzweifelte nimmt das Gegenteil an.

„Man kann doch nicht nicht glauben“, hat Franz Kafka einmal notiert. Er meinte nicht den religiösen Glauben im engeren Sinn, er meinte das Vertrauen in den Sinn des Seins, allgemeiner: das Vertrauen in die sozialen und sozialpsychologischen Vorbedingungen menschlicher Existenz. Ohne dieses Vertrauen kann der Mensch nicht atmen, er erstickt.

Jede Lebensfahrt beginnt mit weiten Segeln der Hoffnung. „Es muss im Leben doch mehr als alles geben“, lautet ein Kinderbuch-Klassiker (Maurice Sendak). Aus diesem Grundvertrauen erwächst immer wieder Hoffnung. Sie hat ansteckende Kraft. Der Selbstbefreiungssturm der arabischen Jugend berührt uns ebenso wie der Durchhaltewille der Japaner nach der Multikatastrophe.

Der fröhliche Lebenshunger

Wer jung ist und die Zukunft vor sich hat, den trägt die Hoffnung. Mit dem Alter ermüdet die kreatürliche Hoffnung, und das „Noch nicht“ wird abgelöst vom „Nicht mehr“. Für die übernatürliche Hoffnung, die auf das Ewige sieht, gilt das Gegenteil. Sie macht jünger, wie Paulus betont: „Wenn auch unser äußerer Mensch vergeht, der innere verjüngt sich von Tag zu Tag“ (2 Kor 4, 16).

Diese Einstellung wird in Europa zunehmend zur Minderheitsposition. Mit der Verabschiedung Gottes ist die Hoffnung vom Jenseits auf die Zukunft unserer irdischen Geschichte umgepolt worden – man denke an Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“. In den 1980er- und 1990er-Jahren mit ihrer wachsenden Säkularisierung war der Verfasser mehrmals in Asien unterwegs. Damals hatte man in Europa über die „Eurosklerose“ gejammert. Missmut lag wie Mehltau auf vielen Gemütern. Die Jugoslawien-Kriege erschütterten zusätzlich das Selbstvertrauen.

Doch dann erlebte der Reisende das unbeschreibliche Lachen asiatischer Kinder: glitzernde Augen mitten im Elend und Dreck. Der fröhliche Lebenshunger war mit Händen zu greifen. Unbändig der Aufstiegswille der Tüchtigen – Teil der „Asian values“. Wer wird etwa die Bilder vergessen vom Familienzusammenhalt, der Staunen machte? Von mehreren Marktfahrern auf einem einzigen Moped, überladen mit Körben voll Obst und Gemüse? „La vita è bella“!

In Europa konnte man zu dieser Zeit Veränderungen der Alltagssprache bemerken. Immer weniger war von „Freude“ die Rede, lieber sprach man von „Spaß“. Da begeisterte nicht das Glitzern der Kinderaugen, sondern das Glitzern der Shows. Die Welt suchte den „Superstar“, Celebrities waren gefragt. „No risk, no fun“, hieß es schmissig. Auch diese Welle verebbt. Die Frage nach Verbindlichkeit und Dauer meldet sich wieder. Die „Rückkehr der Religionen“ ist ein (etwas diffuser) Hinweis dafür. Glücksrezepte, alternative Lebensentwürfe und Sinnbücher aller Art füllen die Bestsellerlisten.

Wie soll man das deuten? Selbstverwirklichung im Diskontmodus? Wellness als Lebenssinn? Spotten fällt leicht, verkennt aber die Antriebskraft, die die vielen Suchbewegungen treibt. Es ist die Hoffnung, wenn nicht auf eine bessere Welt, so wenigstens auf ein besseres Selbst.

Der Geist, der lebendig macht

Es ist freilich der Geist, der lebendig macht (Paulus) – und nicht die Anzahl verspeister Gourmetmenüs. Nur auf der Grundlage eines Seinsvertrauens kann der Geist konstruktiv werden. Vertrauen und Geist hängen zusammen, sie machen lebens-, ja überlebensfähig.

Die russische Schriftstellerin Jewgenija Ginsburg war 1937 unschuldig in die Mühlen des Archipel GULag geraten (und kam erst 1953 wieder nach Moskau zurück). Bei bitterster Kälte mussten die Lagerhäftlinge zu Holz- und Steinarbeiten in den sibirischen Winter hinaus. Wer konnte da überleben?

Überlebt haben überdurchschnittlich jene, die – so Ginsburg in ihrem Buch „Gratwanderung“ – am Abend noch die Kraft dazu hatten, voreinander Gedichte zu rezitieren. Der Dichter Warlam Schalamow ist ein weiteres Beispiel dafür. Es ist der Geist, der lebendig macht.

In den Augen der gestressten Kinder von heute mag es das Glitzern seltener geben. Doch das Vertrauen in das Handeln und Sprechen der Liebe ist unverändert wie eh und je. Es ist das Seinsvertrauen, von dem schon die Rede war – ein unersetzlicher Teil der Condition humaine.

Der Anker als Hoffnungssymbol

Gerade, weil das so ist, empfinden Menschen das Gefühl existenzieller Ausweglosigkeit am bedrohlichsten. Wenn die Welt ihre Hoffnung verlöre und das Wort „Zukunft“ seine Faszination, dann sei das für die Menschheit das Schlimmste, schrieb der postmetaphysische Philosoph Richard Rorty. Doch wie tragfähig ist das voluntaristische Bekenntnis zu einer Hoffnung ohne Gott, zu einem sterblichen Fortschrittsglauben? Für die christliche Theologie ist die Hoffnung – neben Glaube und Liebe – jene Grundtugend, in der sich der Mensch als Geschöpf Gottes begreift. Hoffnungssymbol ist der Anker. Papst Benedikt XVI. hatte seiner zweiten Enzyklika das Römerbrief-Wort „Auf Hoffnung hin sind wir gerettet“ („Spe salvi facti sumus“, Röm 8, 24) als Titel gegeben. Vernunft ohne Glaube und Liebe könne dem Menschen keinen Lebenssinn geben. Es bedürfe der großen Hoffnung „Gott“, die alles umfasse.

Verzweiflung und Vermessenheit

Verzweiflung und Vermessenheit sind dem Theologen Josef Pieper zufolge die zwei Gegenpole der Hoffnung. In der Verzweiflung verneint der Mensch seine eigene Sehnsucht. Verzweiflung ist seine Flucht vor Gott, von dem er in Ruhe gelassen werden möchte. Verzweiflung verneint die Erlösung durch Christus. Für Kierkegaard ist sie eine „Krankheit zum Tod“.

Vermessenheit wiederum ist der Versuch, die verheißene Erfüllung schon im Diesseits vorwegzunehmen. Sie widerspricht der unaufhebbaren Unsicherheit sterblicher Existenz. Nur durch Hoffnung wird diese Unsicherheit überwunden. Vermessenheit verzichtet auf diese Hoffnung, weil sie an die Realität eines ewigen Lebens nicht glaubt.

Woran die Pessimisten scheitern

Auf welcher Stufe hält derzeit das Denken des Durchschnittseuropäers? Immer noch beim kurzbeinigen „Fortschrittsglauben“, so scheint es. Doch „die Hoffnung stirbt zuletzt“, heißt eine fast totgedroschene Phrase – und sie stimmt, gerade „in hora mortis“. Warum sonst konnte in Auschwitz gebetet werden (und wer weiß, von wie vielen)?

1980 wurde der estnische Komponist Arvo Pärt von den Sowjetmachthabern zwangsexiliert. Der Dissident wurde von einem westlichen Interviewer gefragt, ob er eine Rettung aus der kommunistischen Diktatur voraussähe? Pärt wiederholte: „Ob wir gerettet werden?“ Kurzes Zögern. „Vielleicht. Nein gewiss. Unter der Asche ist Feuer, man muss nur ein bisschen frische Luft dazugeben.“

So ist es. Und an dieser Tatsache scheitern alle Pessimisten und Kassandras mit Tunnelblick.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2011)

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