Der Mann, der die Angst besiegte und die Grenzen öffnete

Seligsprechung. Karol Wojtyła und das Geheimnis seiner ungebrochenen Anziehungskraft. Ein Blick auf Johannes Paul II. jenseits der Klischees.

Wieder zog es Hunderttausende nach Rom. Vor sechs Jahren war es der Tod Karol Wojtyłas, der die „Mächtigen“ dieser Erde und Scharen einfacher Gläubiger an den Tiber gebracht hatte. Dem Ruf „Santo subito!“ folgte in Rekordzeit die Seligsprechung. Was ist das Geheimnis der ungebrochenen Anziehungskraft Johannes Paul II.?

Schon beim Stichwort Seligsprechung stellt der aufgeklärte Zeitgenosse subito die Haare auf. Einen Papst „anzuhimmeln“ sei ein Fall von „Papolatrie“.

Im Übrigen sei die Bilanz des Pontifikats durchaus gemischt gewesen: die Schieflage im Verhältnis Zentrale/Ortskirchen verschlimmert, die Probleme Zölibat und Frauenordination zementiert, die Moraldoktrin rigide statt menschenfreundlich usw. Es ist der Katalog der bekannten Dauerklagen.

Dieses Lamento verliert nicht deshalb an Bedeutung, weil es (bisher) weder die Reformbereitschaft der Kirchenspitze geweckt hat noch die tiefer liegende „Gotteskrise“ (Johann Baptist Metz) genau genug gewichtet.

Motor des friedlichen Wandels

Doch hier soll es nicht um diese Fragen gehen. Sie haben das Innerste der Millionen Pilger kaum berührt. In ihrer Wahrnehmung stand Karol Wojtyła für ganz anderes. Dieses Phänomen mit der Kurzformel „Massensuggestion“ abzutun verfehlt die Persönlichkeit des Papstes ebenso wie die Intention der Gläubigen.

Als Karol Wojtyła 1964 zum Erzbischof von Krakau ernannt werden sollte, hatte Kardinalprimas Wyszyński Einwände erhoben. Er hielt den ehemaligen Laienschauspieler für „zu weich“, um den Machthabern widerstehen zu können. Eben deshalb akzeptierte das Regime seine Ernennung. Es irrten beide. Wojtyła wurde wie kein anderer zum Motor des friedlichen Wandels in seinem Heimatland.

Da war ein Mutmacher, der mit seiner Ausstrahlung, seinem Handeln und seiner Festigkeit trotz aller scheinbaren Unveränderlichkeit der Verhältnisse etwas zu bezeugen verstand: dass der Mensch dazu berufen und fähig ist, menschenverachtende Unterdrückung zu überwinden.

Auf den ersten Blick betraf das natürlich die friedliche Revolution in Osteuropa, zu deren fermentierender Kraft Johannes Paul II. Entscheidendes beitrug. Aber der Papst zeigte sich – durch sein unermüdliches Reisen ebenso wie durch seine aufsehenerregenden Sozialenzykliken – auf noch ganz anderen Feldern als globaler Anwalt der Veränderung.

Wojtyła war ein politischer Kopf, aber kein Politiker. Es ging ihm um den Menschen, seine Würde und unveräußerlichen Rechte. In seiner programmatischen Enzyklika „Redemptor hominis“ (1979) benannte er klar den Menschen als „den Weg der Kirche“. Diese personalistische Theologie mochte für viele schwierig sein. Doch sein unnachahmliches Auftreten hatte den Charakter eines einzigartigen Dialogangebots. Auch glaubensferne Menschen fühlten sich ernstgenommen.

Der Papst wusste um die vielfältigen Ängste der Menschen: Angst vor dem Tod und der Unterdrückung, vor Arbeitsplatzverlust oder Umweltverheerungen, Angst vor dem „Fremden“, ja sogar Angst vor der Freiheit. Je größer die Angst, desto stärker die Neigung, sich zu verschanzen und sein Herz zu verschließen.

Der Verfasser dieser Zeilen hat es erlebt, wie bei der legendären ersten Polen-Reise von Johannes Paul II. (1979) die Angst erkennbar von den Menschen abfiel. 13 (von 36) Millionen Polen begegneten dem Papst! Diese Reise initiierte so etwas wie eine „Revolution des Gewissens“. Indem Johannes Paul II. die jahrzehntelang unterdrückten Menschen von der Angst befreite, zerbrach er das Machtgeheimnis der Despoten.

Blockademacht der Angst

Karol Wojtyła gab dem Einzelnen, der in der herrschenden Ideologie als Individuum bedeutungslos war, seinen Selbstwert zurück, betonte die mitmenschliche Solidarität (woraus ein Jahr später „Solidarność“ entstand) und stellte als „Zeuge der Hoffnung“ dem atheistischen Lügenkosmos eine völlig andere Wertematrix entgegen. Im gesamten Pontifikat war immer wieder die Fähigkeit des Papstes zu spüren, die Blockademacht der Angst zu brechen.

Ebenso faszinierend war die Entschlossenheit Wojtyłas, künstliche Grenzen infrage zu stellen, sofern sie Menschen von Menschen absondern und den Blick für das Gemeinsame verhindern. Auch das interkonfessionelle Weltfriedensgebet in Assisi war eine solche Grenzüberbrückung.

Bei seiner Amtseinführung am 22.Oktober 1978 sagte der Papst: „Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus! Öffnet die Grenzen der Staaten, der wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts Seiner rettenden Macht! Habt keine Angst!“

Dieser furchtlose Mann war zur Führung entschlossen. Er wusste, wie wichtig es ist, in einer säkularisierten Gesellschaft nicht nur den Glauben zu predigen, sondern auch „Vorräume des Glaubens“ zu schaffen. Heute sind wir in „real time“ Zeugen entferntester Katastrophen und erleben uns dabei oft als ohnmächtig oder gar gleichgültig. „Family of men“ sagt das Bewusstsein – und weiß doch um die bitteren Widersprüche der Welt. Es ist das Zerrissenheitsgefühl der Ungleichzeitigkeit: sich als Menschheit zu wissen und es realiter doch nicht zu sein. Mit seinem Weckruf „Öffnet die Grenzen! Habt keine Angst!“ traf Wojtyła die chiffrierte Sehnsucht von vielen.

Ruf nach Wahrheit und Freiheit

„Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh 8, 32). Wenn dem so ist, dann muss man auch die von Kirchenvertretern zu allen Zeiten begangene Schuld klar, also schmerzhaft, aussprechen. Das war der Sinn der „großen Vergebungsbitte“ Johannes PaulII. (12.März2000), eines einzigartigen Vorgangs, der kurienintern verbreitetes Stirnrunzeln auslöste.

Der Ruf Johannes Paul II. nach Wahrheit und Freiheit nahm, je älter er wurde, an Dringlichkeit zu. Er sah immer deutlicher die neuartigen Bedrohungen jener Freiheit, zu der der Mensch seinem Wesen nach berufen ist. Auch das Christentum kann nur in wirklicher, gelebter Freiheit zu sich kommen.

„Die Freiheit ist das Maß der Würde und der Größe des Menschen. Sie besitzt eine ,innere Logik‘ und verwirklicht sich im Suchen und Tun der Wahrheit“, sagte der Papst 1995 vor der UNO-Vollversammlung und fügte hinzu: „Darum ist die Beziehung zur Wahrheit über den Menschen – eine Wahrheit, die allgemein erkennbar ist durch das Sittengesetz, das jedem ins Herz geschrieben ist – in Wirklichkeit die Garantie für die Zukunft der Freiheit.“

Relativismus hat keinen Bestand

Dass ein Papst über die Wahrheit des Glaubens spricht, wird niemanden überraschen. Dass Johannes Paul II. aber der menschlichen Freiheit diesen unersetzlichen Rang zuwies, haben Millionen Menschen instinktiv verstanden. Sie spüren, wie vage immer, dass ein Relativismus, der die Wahrheitsfrage tabuisiert, auf Dauer nicht Bestand hat.

Doch ohne einen Raum der Freiheit – und das ist das Entscheidende – würde auch die Formel „Wahrheitsfrage“ leblos werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2011)

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