Der deutsche Atomausstieg – eine Zäsur auch für Europa

Energiewende. Angela Merkels Sinneswandel wird vielleicht einmal als „historisch“ gelten. Zunächst geht es der Bundeskanzlerin um Machterhalt.

Noch nie hat eine deutsche Bundesregierung in einer entscheidenden Zukunftsfrage eine so schnelle Kehrtwende vollzogen. Das Blitztempo birgt Risiken. Denn der Atomausstieg ist eine Zäsur für Deutschland und Europa – und die langfristigen Folgen sind durchaus ungewiss.

Merkels 180-Grad-Wende war mehr politisch-taktischer Natur als Grundprinzipien verpflichtet. Dass es der deutschen Kanzlerin gelang, in der Atomfrage ihren Sinneswandel in eine politische Weichenstellung umzusetzen, könnten Beobachter als mutig, konsequent und führungsstark bezeichnen.

Noch im Herbst hatte sie eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre durchgesetzt. Was man sehen konnte, war eher der geschickte Opportunismus einer Machtpolitikerin. Es ist ein atemberaubendes Stück Politikgeschichte. Am kommenden Donnerstag wird der Bundestag den Atomausstieg endgültig beschließen – nur dreieinhalb Monate nach Fukushima. Wenn Kernschmelzen nach einem Tsunami in einem Hochtechnologieland wie Japan möglich seien, dann müsse man auch das „Restrisiko“ deutscher Kernkraftwerke neu bewerten, so die Kanzlerin.

Wieder ein Alleingang Merkels

Wäre die Gefahren-Neubewertung der einzige Grund für den Atomausstieg gewesen, hätte Merkel eine energiepolitische Feinabstimmung in der EU versuchen müssen. Die Folgen eines Super-GAUs machen ja an keiner Grenze halt. Doch Merkel entschied sich für einen Alleingang – wie schon bei der Abschaffung der Wehrpflicht im vergangenen Herbst.

In beiden Fällen verstieß Berlin nicht gegen formales Recht der EU, wohl aber gegen den Geist der Rücksichtnahme unter Partnern. Bei Grundentscheidungen, deren Folgen für die EU als Ganze relevant sind, sollte ein zentrales Land wie Deutschland nicht einfach tun und lassen, was es will.

Natürlich tangiert die Energiewende im europäischen Industrieland Nr. 1 die Nachbarstaaten. Viele sind über den deutschen Sonderweg verärgert und besorgt. Die wichtigsten erneuerbaren Energien, auf die sich Deutschland künftig weitaus stärker stützen will, können Strom nicht gleichmäßig erzeugen. Weht kein Wind oder fehlt der Sonnenschein, wird „Ökostrom“ zur leeren Floskel, jedenfalls solange es die Energiespeicher der Zukunft noch nicht gibt.

Das wieder heißt, dass wegen des Auf und Ab der Ökostromerzeugung der Netzausbau für extreme Schwankungen gerüstet sein muss. Schon im nächsten Winter könnte es bei einem Zusammentreffen negativer Umstände laut deutscher Bundesnetzagentur zu einem „Blackout“ kommen. Es gibt zwar Energiereserven, doch sie sind knapp geworden. Im schlimmsten Fall könnte eine Notlage in Deutschland das europäische Stromnetz überlasten.

Kurz, ohne Abstimmung mit den Nachbarn wird der Atomausstieg nicht funktionieren. Nach dem Beginn des Drei-Monats-Moratoriums im März (der Stilllegung der sieben ältesten AKW) stiegen in Leipzig, der wichtigsten Strombörse Europas, die Termin- und Spotpreise um bis zu zehn Euro/kWh. Vor dem Moratorium war Deutschland ein Nettoexporteur von Strom gewesen, seither ist es Nettoimporteur.

Wie eine Reise ins Ungewisse

Die deutsche Energiewende kommt einer Reise ins Ungewisse gleich. Sollte der Atomausstieg bis 2022, wenn das letzte der 17 AKW vom Netz geht, wirklich klappen, will man zu diesem Zeitpunkt 35 Prozent des Stroms aus regenerativen Quellen produzieren. Deutschland hätte dann auf diesem Feld die technologische Führung in Europa, mit vielen neuen Arbeitsplätzen und Industriesektoren, die boomen. Doch bevor sich der Traum, Europas entscheidender Trendsetter zu sein, realisieren kann, sind unzählige „Herkulesaufgaben“ (Merkel) zu bewältigen.

Die große Wende soll drei Kriterien genügen: Versorgungssicherheit, Leistbarkeit und Umweltfreundlichkeit, doch überall gibt es hier große Fragezeichen. So wird man den Bau neuer Gas- und Kohlekraftwerke (mit einer Leistung bis zu 15 Gigawatt!) nicht vermeiden können. Gas erhöht aber die Abhängigkeit von Russland, Kohle den CO2-Ausstoß. Deutscher Strom wird künftig schmutziger.

Um die Versorgungssicherheit zu garantieren, braucht Deutschland Pumpspeicherkraftwerke und mehr als 3000 Kilometer neue Leitungstrassen. Sie sollen den Strom von den Windparks hoch im Norden zur Industrie im Süden bringen. Gegen beides gibt es massiven Widerstand von (oftmals grünen) Bürgerinitiativen.

Kein Ausstieg zum Nulltarif

Schließlich wird die Energiewende Investitionskosten in dreistelliger Milliardenhöhe mit sich bringen, also Belastungen des Durchschnittskonsumenten und der stromintensiven Industrien. Nicht alle Arbeitsplätze werden zu halten sein. Einen Atomausstieg zum Nulltarif kann es nicht geben.

Im vergangenen „Herbst der Entscheidungen“ hatte die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit beschlossen, den von Rot-Grün vor einem Jahrzehnt besiegelten Atomausstieg in die Zukunft zu verschieben. Ziel bleibe ein „Zeitalter der erneuerbaren Energien“, doch bis dahin müssten Atommeiler als „Brückentechnologie“ bestehen bleiben; im Übrigen seien deutsche AKW die sichersten der Welt.

Die Grünen triumphieren

Solche Sprüche ruhen jetzt im Endlager für Fehleinschätzungen. Die promovierte Physikerin Merkel war um die Sicherheit der AKW weniger besorgt, so schien es, als um ihre Restlaufzeit als Kanzlerin.

„Atomkraft, nein danke!“, sagen 80 Prozent der Deutschen. An der Atomverlängerung nach Fukushima festzuhalten, wäre einem politischen Selbstmord Merkels gleichgekommen. Nur keine Massenflucht der Wähler! Lieber nahm sie die Erschütterung der eigenen Glaubwürdigkeit in Kauf. Doch auch nach der Ankündigung des Atomausstiegs hat die CDU bei Landtagswahlen verloren.

Für die Grünen endet ihr jahrzehntelanger Kampf gegen die Atomkraft triumphal. Umfragen bescheinigen ihnen wahre Höhenflüge (Grüne 24 bis 27 Prozent, CDU/CSU auf 30 bis 33 Prozent gesunken). Erstmals stellt sich die Frage nach einem grünen Kanzlerkandidaten für die Wahl 2013!

Suche nach neuem Partner?

Schwarz-Gelb hat abgewirtschaftet. Die FDP kommt – trotz der neuen „Boygroup“ an der Spitze – aus dem Todesschatten nicht heraus. Davor hat Merkel nicht die Augen verschließen können. Denn ohne Koalitionspartner keine Möglichkeit, Kanzlerin zu bleiben.

Daher wollte sie das größte Hindernis für die Option eines schwarz-grünen Bündnisses beseitigen. In Merkels Atomausstieg kann man durchaus auch den Beginn einer neuen Partnersuche sehen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, die neue starke Leitfigur der Grünen, signalisiert schon Offenheit.

Unruhige Zeiten in unserem Nachbarland. Ein gesellschaftlicher Großkonflikt scheint zwar gelöst zu sein. Doch ob in nur elf Jahren tatsächlich ein atomkraftfreies Deutschland existieren wird, ist ebenso offen wie die Frage, ob Schwarz-Gelb überhaupt bis 2013 am Leben bleiben kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2011)

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