Wird die Erinnerung an die Shoah leer und kraftlos werden?

Niemals vergessen. Wie lässt sich 66Jahre nach dem Holocaust das Bewusstsein des einzigartigen Zivilisationsbruchs lebendig erhalten?

Die Erinnerung an den Judenmord durch die Nationalsozialisten gehört zu den geistigen Fundamenten Nachkriegseuropas. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist zur staatsamtlichen Verhaltensregel geworden. Öffentlich wagt ihr niemand zu widersprechen (auf privater Ebene leider sehr wohl).

Die offizielle Einstellungsveränderung im Vergleich zu früheren Zeitläuften kann man als Fortschritt betrachten. Dürfen wir uns also beruhigt zurücklehnen? Wohl kaum. Die Zeit heilt viele Wunden, so heißt es. Sie lässt aber auch Katastrophen vergessen.

Eine beispiellose Last

„Auschwitz werden sie uns nie verzeihen!“ Mit diesem bösen Sarkasmus hat der Polemiker Henryk Broder versucht, eine latente Disposition in Teilen der Täternachfahren zu charakterisieren. Die Judenvernichtung ist eine derart beispiellose Last für das menschliche Selbstverständnis, dass auch Jahrzehnte später viele vor dieser Bewusstseinsbedrängnis zu fliehen versuchen. Auch Lippenbekenntnisse gegen den Antisemitismus sind eine (vergleichsweise harmlose) Flucht vor den Konsequenzen, die wirklich geboten wären.

Welche Konsequenzen gibt es oder sollte es geben? „Den Anfängen zu wehren“, lautet die erste Antwort. Der Zivilisationsbruch begann ja nicht mit dem Holocaust, sondern schon Jahre vorher mit der Entrechtung und Verfolgung der Juden. Damals sahen die meisten Mitbürger schweigend zu oder weg. Auch die Kirchenleitungen nahmen ihre Verantwortung nicht wahr.

Zu den mehr oder weniger eingeübten Konsequenzen zählt es, die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten. Gedenktage und Denkmale, Zeitzeugen und Bücher, Dokumentationen oder etwa die Strafbarkeit der Holocaust-Leugnung: Die gesamteuropäischen Aktivitäten sind so zahlreich wie bemüht und verdienstvoll.

Aus „Memory“ wird „History“

Dennoch stellen sich zwei Fragen immer wieder aufs Neue: Kann es gelingen, eine lebendige Erinnerung an die nächste Generation weiterzugeben? Wird die Erinnerung an die Ungeheuerlichkeit der Shoah den Menschen in Zukunft gegen die Versuchungen des Geheimnisvoll-Bösen immunisieren?

Seit der Befreiung von Auschwitz (das strohdumme Mitläufer des neuen Jahrhunderts mitunter als „polnisches KZ“ apostrophieren) sind bald 66Jahre vergangen. Hochsensibel beobachtet man in den jüdischen Gemeinden Europas jene Entwicklungsprozesse, die das Erleben von einst in eine vergangene Geschichte verwandeln. Aus „Memory“ wird „History“.

Man muss aber die Geschichte kennen, um aus ihr lernen zu können. Das Zeitgeschichtswissen unter Schülern geht alarmierend zurück. Auf Homepages (mit Servern in den USA) wird Antisemitismus verbreitet. Schlichten Gemütern, die Feindbilder brauchen, dient manchmal sogar die aktuelle Islamophobie als Surrogat für Judäophobie.

Es ist alles andere als eine Obsession, sich zu fragen, wie zukunftsfest die Parole „Nie wieder!“ sein wird. Ein Lackmustest dafür ist das Verhältnis zu Israel. Nicht alle Juden sind Staatsbürger Israels, aber für (fast) alle Juden ist Israel nach fast zwei Jahrtausenden der Vertreibung eine spirituelle Heimstatt und geistiger Ankerpunkt.

Grundierte Codeworte

Freilich, in der Differenz zwischen dem Staat Israel und der metastaatlichen jüdischen Identität hat sich eine Einfallslücke für einen oft getarnten, manchmal kaum bewussten Antisemitismus geöffnet. „Darf man denn keine Kritik üben am Staat Israel und seiner Regierung?“ Natürlich darf man (und muss man sogar).

Doch die Codeworte der Kritik an Israel, die in Wahrheit antisemitisch grundiert ist, sind nur zu gut bekannt: eine „faschistoide“ Siedlungspolitik, eine „rassistische“ Palästinenser-Verachtung, eine „verschlagene“ Machtarroganz im Bündnis mit der US-„Ostküste“ usw.

Je öfter die derzeitige israelische Regierung in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik Fehler begeht, desto weniger sehen sich jene Israel-Kritiker, die de facto antisemitisch empfinden, in ihrer Wortwahl gehemmt.

Es gibt noch einen zweiten Lackmustest, ob und wie sehr die Absage an jeglichen Antisemitismus ernst gemeint ist. Das betrifft die Einschätzung der mörderischen Haltung Irans gegenüber Israel. Das Mullah-Regime macht aus seiner Absicht kein Hehl, Israel von der Landkarte auszuradieren. Es gibt keinen seriösen Experten, der noch die Bemühungen Teherans leugnet, künftig Atombomben samt entsprechenden Trägerraketen bauen zu können.

Mangelnde Empathie

Seit Jahren bekennt sich der Westen zu Sanktionen gegen den islamischen „Gottesstaat“, doch de facto suchen westliche Staaten mit Teheran so viele Geschäfte zu machen, wie das Sanktionsregime gerade noch zulässt (einschließlich milliardenschwerer Umgehungsgeschäfte über Dubai und andere Golfstaaten). Gewiss, die mangelnde Empathie für die Bedrohung Israels ist nicht schon mit Antisemitismus selbst gleichzusetzen, doch sie kann leicht zum Nährboden für diesen werden.

Der Einzelne ist letztentscheidend

Das Verbrechen der Shoah war ein einzigartiger Zivilisationsbruch, der die Menschheit von Grund auf verändern müsste – und nicht nur die Menschheit, sondern jeden einzelnen Nachgeborenen. Doch geschieht das? Kann das geschehen angesichts der Verführbarkeit, die für immer ein Kennzeichen menschlicher Existenz bleiben wird?

„Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, heißt es im Talmud. Der Einzelne ist letztentscheidend, sein Beispiel und Unterscheidungsvermögen, seine Verantwortung und seine Einsatzbereitschaft.

In Persien des 5. vorchristlichen Jahrhunderts war es die (Neben-)Königin Esther, die mit ihrem Mut ihr jüdisches Volk vor der Vernichtung bewahrte. Haman, der Großwesir des Königs Xerxes, hatte die Juden im Reich beschuldigt, sich (z.B. durch eigene Speisevorschriften) abzusondern und nicht integrieren zu wollen, deshalb seien sie auszurotten. Ohne die Vorwürfe zu überprüfen, gibt ihm der Großkönig recht. Er lässt sich erst umstimmen, als Esther unter Lebensgefahr Haman als skrupellosen Machtmenschen entlarvt.

Eine menschheitliche Erinnerung

Diese Geschichte zeigt auch, wie schnell Verachtung für vermeintlich „Fremde“ in einen Vernichtungswunsch umschlagen kann.

Um zu verhindern, dass die Erinnerung an den Holocaust kraftlos und leer wird, gibt es also zwei komplementäre Wege. Zum einen vermag das Zeugnis des Einzelnen die Erschütterung über die Generationen hinweg zu tradieren. Zum anderen gilt es, auf kluge Weise eine menschheitliche, nicht nur jüdische Erinnerung anzustreben, die die Leidenserfahrung präsent, die Gerechtigkeitsfrage beunruhigend und die Hoffnung lebendig hält.

Den Gläubigen begleitet dabei das Jesaja-Wort über den Herrn: „Das geknickte Rohr bricht er nicht, den glimmenden Docht löscht er nicht aus“ (Jes 42, 3).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2011)

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