Stadtplan: Sterben, mitten im Leben

Kürzlich in einem Restaurant. Gutes Essen, nettes Gespräch mit zwei Freunden.

Nur aus dem Augenwinkel, erst im Nachhinein wurde klar, was passiert war: Ungewöhnliche Bewegungen der Gäste zwei Tische weiter, dann stehen sie alle auf, gehen zur Theke. Erst als wenige Minuten später die Rettungsleute kommen und hinter dem Tisch, am Boden kniend, Wiederbelebungsversuche beginnen, ist allen klar, was passiert ist.

Minutenlang wird ein alter Mann wiederbelebt. Ich löffle derweilen verstört meine Grießnockerlsuppe. Wir fragen uns: Was ist jetzt das richtige, das passende Verhalten? Wenige stehen auf, zahlen und gehen. Die meisten, auch wir, bleiben sitzen und tun äußerlich so, als wäre nichts geschehen.

Nach quälend langen Minuten beendet die inzwischen eingetroffene Notärztin die Wiederbelebungsversuche. Der Mann ist offensichtlich gestorben. Eine Decke wird über sein Gesicht gezogen. Wir warten derweilen auf unsere Hauptspeise. Die Angehörigen werden zum Toten geleitet. Sie beugen sich hinunter, nehmen Abschied; einer nach dem anderen. Die Polizei kommt. Setzt sich an den Tisch und schreibt einen Bericht. Die Angehörigen stehen wieder an der Theke. Wir verzichten auf die Nachspeise, zahlen und verlassen nach einer Stunde das Lokal.

Bis heute quält mich die Frage: Wie sehr haben wir den Tod aus unserer Gesellschaft, aus unserem Leben verdrängt, dass wir völlig überfordert sind, dann, wenn er plötzlich da ist, ganz selbstverständlich darauf zu reagieren? Aber was ist in so einer Situation selbstverständlich? Was wäre „richtig”, „passend” gewesen? Hätte jemand (ich?) aufstehen sollen, kurz im Restaurant um Ruhe bitten, und so dem gerade Verstorbenen und den geschockten Angehörigen eine Ehrerbietung darbringen sollen? Sollten wir einfach zur Theke gehen und unbekannterweise den Angehörigen stumm die Hand drücken? In einer anderen Kultur hätte wahrscheinlich ganz selbstverständlich irgendjemand ein Lied angestimmt und alle hätten mitgesungen. Aber welches Lied?

Wir sind völlig hilflos, hier in der großen Stadt kennen wir keine Tradition, haben keinen Plan, was eine würdige Reaktion ist. Wir wiegen uns in Verdrängung. Den Tod, den gibt es erst wieder am Friedhof. Aber nicht mitten im Leben.

www.chorherr.twoday.net

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2008)

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