Am Herd: Die Matheschularbeit

Neulich musste ich Dich wegen eines Zweiers trösten. Dabei sehe ich gar nicht ein, was es da zu trösten gibt. Ein Brieflein an mein ehrgeiziges Kind.

Heute hast Du Mathematikschularbeit. In diesen Minuten wird Deine Lehrerin die Zettel austeilen, und ich sitze hier am Computer und denke an Dich. Das heißt: Ich fiebere mit. Ich bin kurz davor, Dir die Daumen zu halten, obwohl ich an so einen Unsinn gar nicht glaube.

Aber Du hast mich darum gebeten, und ich weiß ja, wie wichtig diese Schularbeit für Dich ist. Das kann ich Dir nicht ausreden, ich habe es schon oft versucht. Ich habe Dir erzählt, dass Du jetzt ins Gymnasium gehst und ein Dreier eigentlich „Befriedigend“ heißt. Dass Du bestens vorbereitet bist und dass es nur darum geht, ohne Probleme dem Unterricht folgen zu können und den Stoff zu beherrschen. Nicht um die Note! Ich habe Dir versprochen, mit Dir ein Eis essen zu gehen, mitten im Winter, wenn Du wirklich einen Dreier schreiben solltest.

Nichts hat geholfen. Also versuche ich es mit einer Geschichte: Sie handelt von mir und meinem Leben nach der Matura. Ich habe damals meine Habseligkeiten in drei große Kartons gepackt und bin zum Studium nach Wien gezogen. Ich habe begonnen zu arbeiten, bin schwanger geworden, habe das Studium abgeschlossen, wir haben Hannah bekommen und geheiratet, in dieser Reihenfolge. Dann bist Du auf die Welt gekommen, mein großer Schatz, meine kleine Kröte, mein Äffchen. Und dann, über zwei Jahrzehnte nachdem ich meine Kartons gepackt hatte, fand Deine Großmama beim Entrümpeln meine Zeugnisse. All meine Zeugnisse von der ersten Klasse Volksschule bis zur siebten Klasse Gymnasium.

Was ich damit sagen will: Ich habe sie nie wieder gebraucht. Nie wieder hat jemand von mir wissen wollen, ob ich in der ersten Klasse Gymnasium in Biologie einen Dreier oder einen Zweier hatte, oder ob ich die Sechste fast hätte wiederholen müssen.

Und es ist auch wirklich egal.


Stundenwiederholung. Aber ich weiß, ich kann mir den Mund fusselig reden. Im Moment hat jede Schularbeit eine unglaubliche Bedeutung, jede verpatzte Stundenwiederholung kann Dir einen ganzen Tag die Laune verderben – und ehrlich: Wie sollst Du auch imstande sein, cool zu bleiben, wenn ich das doch auch oft nicht kann. Wenn auch ich mir an schlechten Tagen vergeblich sage, dass der Patzer nicht so schlimm ist, dass ich mich nicht sinnlos über Dinge ärgern darf, die ich eh nicht ändern kann, und dass ich mehr genießen sollte, was ich habe: einen tollen Job, zwei grandiose Kinder, einen wunderbaren Mann, der mich liebt und den ich liebe, mit jedem Jahr mehr. In dem Moment reicht das nicht. Aber es sollte reichen.

Das zu lernen ist schwer, aber wichtiger als Grammatik oder Mathe oder Bio. Es ist Zeit, liebes Kind, damit anzufangen.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2013)

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