Brave Kinder

Haben all die braven Kinder, von denen man immer hört, in Wirklichkeit einfach nur Eltern mit Kopfweh?

Nein, sage ich zum Kind, heute werde ich mich nicht anjammern lassen. Nein, du wirst mir nicht erzählen, dass du die Englischschularbeit verhaut hast, noch dazu, wo du das ja nach jeder Schularbeit behauptest: „Mama, die Schularbeit war scheiße! Mama, ich habe was ganz Falsches gelernt.“ Ich kann das nicht, ich will das nicht.

Nicht heute.

Nein, lieber Mann, ich habe keine Lust, mit dir über Herrn Y. reden, der dich seit Monaten so viel Zeit kostet; es mag zwar sein, dass dir jetzt, gerade heute, eingefallen ist, wie du das abstellen könntest, aber es interessiert mich nicht.

Nicht heute.

Und du, Tochter, bleib mir mit diesen halblustigen Songs vom Hals. Diese YouTube-Stars mögen witzig sein und clever und schlagfertig, aber glaube mir: Von Musik haben die keine Ahnung!

Und jetzt nimm gefälligst Kopfhörer!!!

Seit Tagen habe ich Kopfweh, seit Tagen sticht die ganze Stirn oder die halbe oder der Punkt über dem linken Auge. Seit Tagen kann ich nicht vernünftig denken, ich vergesse, den Regenschirm in der U-Bahn zusammenzuklappen, ich schicke mir die E-Mails selbst statt den Kollegen – und dauernd fällt mir irgendetwas runter, und wenn ich mich bücke, drückt der Schmerz, dass ich glaube, mir birst gleich der Schädel und heraus purzelt mein Gehirn, das nutzlose.


Ich will eine leise Familie! Und deshalb will ich seit Tagen, dass diese Familie, die so chaotisch und lebhaft und laut ist wie die meisten, plötzlich geordnet und bedacht und vor allem leise agiert, dass die Kinder diskutieren statt einander anzufauchen, dass die Schultaschen am Vorabend gepackt sind und dass der Salzstreuer in der Küche bleibt und nicht unters Bett wandert, wo man ihn findet, wenn man am Morgen der Matheschularbeit das Formelheft sucht. Was heißt: Wo ich ihn finde, wenn ich das Formelheft suche.

Darum schimpfe ich. Und ich schimpfe und schimpfe, und es wirkt. Die Kinder räumen auf. Die Kinder sagen: „Ja, Mama.“ Wenn ich ins Wohnzimmer komme, hören sie auf zu streiten und mein Mann übergibt mir wortlos die Fernbedienung. Und um 21.30 ist Ruhe. Totale Ruhe.

Haben vielleicht die braven Kinder einfach nur Eltern mit Kopfweh?

Postskriptum. Das Kopfweh hat nachgelassen. Ich gehe ins Kinderzimmer und frage Hannah, wie ihre Woche war. „Ach“, sagt sie misstrauisch: „Du willst doch eh nur schimpfen.“ „Tut mir leid“, sage ich. „Ja, Mutter“, sagt sie, „so ist es, wenn man 45 ist.“

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2014)

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