Ich bin ein Scheidungskind

Kleine Geschichte vom nicht ganz perfekten Leben (Teil eins): Ich bin ein Scheidungskind, und das ist gut so.

Plötzlich war mein Vater weg. Das heißt: Ganz weg war er natürlich nicht, er lebte „nur“ in einer anderen Wohnung, ein paar Straßenzüge weiter, und ich kann mich noch sehr gut an diese Garçonnière erinnern: Sie war ganz in diesem grauenhaften Siebzigerjahre-Senfton gehalten, und wenn meine Schwester und ich zu Besuch waren, schliefen wir in einer Schublade. Genau: einer riesigen, in eine Wohnlandschaft eingebauten Schublade!

Woran ich mich nicht erinnern kann: dass meine Eltern gestritten hätten. Keine Türenknallereien, keine lautstarken Auseinandersetzungen, kein Becher mit Heidelbeerjoghurt, der in der Hitze des Gefechts mit solcher Wucht auf den Boden geworfen wird, dass ein Teil des Inhalts am Plafond landet, wie das bei mir und meinem Mann schon einmal vorkommt. Kein lautes Wort. Nicht vor der Scheidung und nicht nachher. Ich habe meine Mutter einmal danach gefragt. Sie hat gemeint: „Wir hatten uns einfach nichts zu sagen.“

So war das. Ich war damals fünf oder sechs.

So wenige intakte Familien.
Warum ich das erzähle? Weil ich neulich einer Freundin über den Weg gelaufen bin, die ich früher immer auf dem Spielplatz getroffen habe, und wir plauderten über die Arbeit und die Kinder und die anderen Spielplatzmütter, die Sarah und die Helga und die Susanne. „Schlimm“, sagte meine Freundin, „wie wenige Familien eigentlich noch intakt sind.“

Ich finde das aber gar nicht schlimm. Vielleicht, weil ich es als Kind schon nicht schlimm finden konnte. Als Kind erzählte ich im Hof stolz, ich hätte zwei Väter. Ich konnte zweimal im Sommer auf Urlaub fahren – und ich lernte Schach spielen. Im Café Central in Innsbruck.

Papas kleines, großes Mädchen.

Ob er so viel Zeit für mich gehabt hätte, wenn sich meine Eltern nicht getrennt hätten?

Ich will nichts beschönigen. Die Scheidung hatte auch Konsequenzen, die mir gar nicht passten: Wir sind umgezogen, nach Vorarlberg, ich habe lange gebraucht, um mich zu „integrieren“, noch Jahre später galt ich als „die aus der Stadt“. Und die Partnersuche der Eltern kann auch für die Kinder anstrengend sein: Da war der Freund meiner Mutter, den ich mochte und der aus meinem Leben verschwand. Die Freundin meines Vaters, die mir zu laut war und deren Tochter diesen Lilatick hatte.


Und jetzt? Meine Mutter hat den Mann, mein Vater die Frau fürs Leben gefunden. Was bedeutet, dass meine Familie um zwei mir liebe Menschen größer geworden ist – und dass unsere Kinder neben Großmama und Großpapa, Opa und Oma eben noch Großvati und Großmutti haben.

Das mag für andere nicht perfekt sein. Für mich ist es perfetto.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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