Das Nachbarschaf

Ich stelle mir vor, wie der Lehrer an seinem Schreibtisch sitzt, vor sich einen Stapel Hausaufgaben, der nicht kleiner werden will, und dann laut lacht.

Meine Tochter hat das „T“ vergessen. So etwas passiert ihr öfter, sie ist eine sehr konsequente Buchstaben-unter-den-Tisch-fallen-Lasserin, ich glaube, dass bei uns auf dem Boden der Küche, wo sie die Hausaufgaben macht, schon die Zutaten für Stephans nächsten Roman liegen, alle nötigen Beistriche und ein paar mehr inklusive. Diesmal kam also noch ein „T“ dazu, ein kleines, aber deshalb nicht weniger wichtiges: Es hätte nämlich in dem Wort „Nachbarschaft“ stehen sollen.

„Mäh“, stand in Rotstift am Rand.

Als ich in Hannahs Alter war, hatte ich auch einen Lehrer, der gern Witze machte. Er stellte sich vor uns Schüler und polterte: „Ihr seid allesamt Flaschen und die Stöpsel noch dazu!“ Dann dröhnte er los: „Höhöho!“ Und wir lachten mit: „Hihihih“. Ich habe mich vor diesem Lehrer wirklich gefürchtet, sein Latein-Unterricht hat mich so traumatisiert, dass ich diese Sprache erwürgen könnte, wenn sie nicht schon tot wäre. Aber dass er lachen konnte, hatte für mich etwas enorm Beruhigendes. Es hieß: Er ist ein Mensch! Wenn er lacht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er auch isst und schläft und krank werden kann, obwohl es dafür niemals auch nur den geringsten Beweis gab.

Seine Witze freilich, die waren schlecht, und ich habe nur aus Erleichterung gelacht. Über das rote „Mäh“ dagegen amüsiere ich mich wirklich. Ich stelle mir vor, wie Hannahs Lehrer an seinem Schreibtisch sitzt, neben sich einen Espresso, vor sich einen Stapel Hausaufgaben, der nicht kleiner werden will, ich stelle mir außerdem vor, wie er sich durch die keineswegs immer sehr inspirierten Erörterungen seiner Schüler arbeitet – und dann lacht.

Vielleicht auch, weil er weiß, dass ihm etwas gelungen ist: Bei Hannah wird das „Nachbarschaf“ künftig verlässlich in seinem Stall bleiben.


Postskriptum. Leider, das Rätsel ist noch nicht gelöst. Durch Ihre Zuschriften, werte Leser, weiß ich jetzt zwar, dass es den Spruch „Der Bach ist abgekehrt“ wirklich gibt. Und ich habe auch eine Menge ausgesprochen plausibler Erklärungen erhalten, woher er stammen könnte. Das Problem dabei: Sie widersprechen einander! Während ein Leser von der Gefahr durch bei Hochwasser anschwellende Tiroler Gebirgsbäche berichtet, die durch Sandsäcke in eine andere Richtung gelenkt werden, erzählt ein anderer von Kanälen, die stillgelegt werden mussten, wenn der Nachbar mit der Bewässerung dran war. Wieder andere beziehen den Spruch auf alte Mühlen oder die Reinigung oder das Leerfischen des Bachbetts. Zum Dank für die vielen Hinweise hier noch ein weiterer Spruch meiner Großmama, diesmal über Versuchungen in der Ehe (und wie man ihnen widersteht): „Wenn der Wind nicht weht, muss man den Hut nicht halten.“

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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