Die Leute sind wütend

Die Leute sind wütend. Und sie haben Angst. Wann haben wir eigentlich begonnen, von erwachsenen Menschen wie von kleinen Kindern zu sprechen?

Wut sollte bewegen, aber diese Wut macht uns bequem. Sie sollte unsere Sinne schärfen – aber stattdessen macht sie alles gleich. Die Wut ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns einigen, immer nur eine „Zeit im Bild“, einen Klick auf Facebook, einen Zeitungsartikel weit entfernt, von dem wir immer häufiger nur den Titel lesen, weil die Details uns gar nicht interessieren. Wir wissen, wer schuld ist: die Politiker. Die Banken. Der Mainstream. Immer öfter auch: die Medien. Aber welche Banken? Welche Politiker? Welche Medien? Und wohin fließt der Mainstream? Spezifikation unnötig.

Wir haben uns mit unserer Wut gut arrangiert, und so fühlen wir uns seltsam wohl in unserer Haut, aus der wir täglich fahren. Wer sich erregt, spürt sich. Wer schimpft, bleibt nicht lange allein. Wir sind gemeinsam wütend, wenn wir zehn Minuten auf die Straßenbahn warten müssen oder auf der Gasse vor dem Haus der Kanal saniert wird. Wir erregen uns über Fußgängerzonen, Genderwahn, Lehrer, Schüler, das Kopftuch, das Kreuz. So tauschen wir Hilflosigkeit gegen Überlegenheit: Wir wissen es schließlich besser. Wir sind die Wutbürger und haben zu allem eine Meinung. Und wenn wir keine Meinung haben, bleibt uns immer noch das Ressentiment.


„Besorgte“ Bürger. Wenn die Leute nicht gerade wütend sind, haben sie Angst. Oder, nicht ganz so drastisch: Sie sind besorgt. Man müsse das verstehen, heißt es dann. Und wenn einer lautstark die Meinung vertritt, syrische Flüchtlinge „brauche man nicht“ in Österreich – dann muss man sich in ihn hineinversetzen. Was man nicht darf: verlangen, dass einer von uns sich in Menschen hineinversetzt, die Folter erlebt, den Tod mitangesehen haben, die aus einem Land geflüchtet sind, in dem Krieg und Terror herrschen.

Wann haben wir eigentlich begonnen, von erwachsenen Menschen wie von Dreijährigen zu sprechen, denen man für jedes Wehwehchen ein Pflaster besorgen und pusten muss – und gegen die Angst vor Gespenstern schauen wir noch ein viertes Mal unters Bett. Wann haben wir – schlimmer noch– begonnen, uns wie Dreijährige aufzuführen? Wir bekommen einen Trotzanfall, wenn im Zug das WLAN streikt! Alles wollen wir sofort, keine Unbequemlichkeit ist uns mehr zuzumuten, unsere Anspruchshaltung ist grenzenlos. Wir könnten uns politisch engagieren – aber das ist uns zu minder. Wir könnten helfen, tatkräftig, unmittelbar, in unserer Nachbarschaft – aber das ist uns wieder zu viel. Ist ja auch gar nicht nötig: Die Verantwortung tragen eh die anderen, und das ist uns ganz recht so.

Bei Kindern nennt man das – verwöhnt.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2014)

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