Eltern sind besser als ihr Ruf

Und dann kreischt das Kleinkind der Nachbarn dauernd, der Fünfjährige im Bus hat glatt noch einen Schnuller, dieser Zehnjährige spielt dauernd Nintendo. Und was tun wir? Urteilen.

Früher, so vor zehn, fünfzehn Jahren, war ich eine Eins-a-Pädagogin. Das heißt: Ich wusste genau, wie es erziehungsmäßig richtig geht. Und natürlich auch, was bei den anderen so alles falsch lief:

Da gab es zum Beispiel die Kollegin, die unmittelbar nach dem Mutterschutz wieder ganztags zu arbeiten begann und ihr schlechtes Gewissen beruhigte, indem sie den Kindern von den zahlreichen Dienstreisen zuerst teure Babykleidung und später jede Menge elektronisches Spielzeug mitbrachte.

Und ich dachte mir: Das werden einmal verzogene Bälger!

Oder das befreundete Paar, dessen Sohn im Sandkasten gar nicht zum Spielen kam, weil er dauernd Schaufel und Kübel bewachen musste, und der von seinen Eltern nie hörte, dass er jetzt, sapperlot, auch einmal ein anderes Kind auf die Schaukel lassen soll.

So erzieht man Egoisten!

Oder der Vater, der seiner Tochter auch dann noch eine warme Jacke aufzwang, als alle anderen Kinder schon längst barfuß durch die Wiese tollten. Die durfte auch nicht mit Wasser pritscheln. Oder allein zum Geschäft Schokolade kaufen gehen.

So was von in Watte gepackt!


Überraschung. All diese Kinder sind zehn, fünfzehn Jahre später weder verwöhnt noch verzärtelt noch völlig dem Konsum verfallen, und sogar aus dem verzogenen Fratzen der Nachbarn, der nicht grüßen konnte und einmal der dreijährigen Marlene ein Bein gestellt hat, ist ein nachdenklicher, höflicher junger Herr geworden.

Hm.

Wir zitieren gern dieses Sprichwort, wonach es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Aber anstatt es als Aufforderung zu verstehen, mit dem Patenkind Vokabeln zu lernen oder dem Sohn der Kollegin zu zeigen, wie man Tic Tac Toe spielt, dient es immer häufiger als Rechtfertigung für Dauerkrittelei: Dieser Vater da ist zu streng und jener zu laissez-faire, diese Mutter betütelt ihr Kind, und jene kümmert sich nicht genug. Man schüttelt den Kopf über das brüllende Kleinkind, den Zehnjährigen im Restaurant, der dauernd Nintendo spielt, wir heben die Augenbrauen, wenn wir einen Fünfjährigen mit Schnuller sehen und geben uns besorgt, wenn eine Mutter zu lang stillt – oder gar nicht.

Dabei wissen wir nicht, warum das Kind so schreit. Kann sein, es hat Ohrenschmerzen. Der Bub mit dem Nintendo hat vielleicht davor seine Eltern ohne Murren durch drei Museen und vier Kirchen begleitet. Und selbst wenn: Nein, er wird nicht gleich spielsüchtig.

Also runter mit den hochgezogenen Augenbrauen! Zieht die gerunzelten Stirnen glatt: Eltern sind besser als ihr Ruf.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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