Über meine Kindheit und das, was ich nicht vergessen will

Ich war vier Jahre alt und bin mit einem Räuberhauptmann durch die Wälder geritten...

Daran erinnere ich mich: an die Taufe meiner Schwester. Wir waren in einer riesigen Kirche, vorn standen meine Eltern mit dem Baby, ich musste mit meiner Taufpatin auf einer der Bänke warten. Sie trug weiße Handschuhe (kann das stimmen?) und versuchte mich abzulenken. Aber ich wollte nach vorn! Zu den anderen! Da meine Schwester weinte. Oder eher: da ich nicht allein sein wollte.

Ich erinnere mich: an die Nacht, in der ich mir die Wunde am Knie aufgekratzt habe. Sie hat zu bluten begonnen. Ich bin zu den Eltern ins Wohnzimmer gegangen, und sie waren sauer: schon wieder gekletzelt! Da erzählte ich, es hätte geklingelt, ein Räuberhauptmann sei vor der Tür gestanden und hätte mich aufgefordert, mit ihm in die Wälder zu reiten, nur ich könne helfen. Warum ich einem Räuber helfen wollte und warum nur ich die Klingel gehört haben soll, weiß ich nicht mehr, nur dass ich vom Pferd gefallen bin und mir so das Knie wieder aufgeschlagen habe, und dass ich am nächsten Tag empört war, als meine Mutter behauptete, ich erzähle Geschichten. Für mich waren der Räuberhauptmann und der Wald real geworden!

Ich erinnere mich: erstaunlich oft an Kränkungen, Zurückweisungen, Peinlichkeiten (an eine verlorene Wette, meinen kaputten Gocart, an den Tag, an dem ich „festgenommen“ wurde, weil wir Hofkinder „Polizist, Polizist, hat die Hosen voller Mist“ gerufen hatten).


Verweile! Wenn ich mir schöne Dinge ins Gedächtnis rufen möchte, muss ich länger nachdenken: Einmal hob mich mein Vater mitten in der Nacht aus dem Bett und trug mich zum Auto, sein Ring drückte. Wir fuhren nach Jugoslawien. Ich fühlte mich so geborgen. Oder meine Mutter, die mir Apfelmus ans Bett brachte, als ich krank war, und sie war so schön, die allerschönste Frau auf der ganzen Welt, noch viel schöner übrigens ohne Wimperntusche.

Wann fallen mir solche Dinge ein? Sind es Gerüche, Erzählungen, ist es der Mini, der vorbeifährt und mich an unser erstes Auto erinnert, knallorange, weil damals Autos nicht nur grau, blau und schwarz sein mussten? Ist es etwas, was Hannah und Marlene tun oder sagen?

Manchmal, wenn das Leben zu schön ist, um vergessen zu werden, versuche ich es festzuhalten: wenn Hannah beim Abendessen eine ihrer trockenen Bemerkungen macht und mir fast der Wein aus der Nase kommt vor Lachen. Wenn ich mit Marlene Eis essen gehe und sie mir die neuesten Tricks auf dem Longboard vorführt. Wenn ich mit Stephan auf der Piazza delle Erbe in Verona sitze, die schöner ist als alles, was Architekten jemals planen werden. Dann sage ich: Daran möchte ich mich erinnern!

In 30 Jahren werde ich wissen, ob's geklappt hat.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2015)

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