Am Herd

Warum uns das Foto des kleinen Buben das Herz bricht: weil er nicht nur tot ist, sondern in seinem Tod auch noch einsam – und weil wir uns mitschuldig fühlen.

brandheiss und
höchst persönlichWo ist denn die Mutter? Ertrunken. Der Bruder? Ertrunken. Der Vater? Weit fort, in einem Hospital. Der kleine Bub, drei Jahre alt, liegt am Strand von Bodrum, dort, wo andere Kinder sonst Sandburgen bauen, nach glitschigen Quallen stochern oder in den Wellen hüpfen. Er hat die Schuhe noch an den Füßen, das rote Shirt, die blaue Hose kleben am Leib, und dass er tot ist, sieht man daran, dass sein Gesicht im Wasser liegt. Keiner ist bei ihm. Kinder aber sollen nicht allein sein, nicht im Leben und nicht im Tod.

Es muss ein Fremder kommen, der ihn fortträgt. Der sich seiner annimmt, annehmen muss. Das ist sein Job. Der junge Polizist hält ihn im Arm, als würde der Bub schlafen, aber er schaut ihm nicht ins Gesicht, wie man das bei einem schlafenden Kind selbstverständlich tun würde, weil uns die Arglosigkeit eines schlummernden Kindes immer wieder bezaubert und rührt. Er wendet den Blick ab. Weil es zu viel ist? Weil es respektlos wäre, den kleinen Toten anzustarren?


Ach, Europa. Wir sind dieser Polizist. Wir haben versucht wegzuschauen, aber es ist uns nicht gelungen. Es ist da, dieses Foto, ob wir seine Verbreitung nun gut finden oder nicht, es ist in unseren Hirnen und unseren Herzen, und dort bleibt es, weil es so ungeheuerlich ist: der Strand und der Tod. Das Kind und die Einsamkeit. Der kleine Bub, dessen Gesicht man nicht erkennt, weshalb er nun für alle Buben und Mädchen steht, die in den letzten Jahren im Mittelmeer auf dem Weg zu uns ertrunken sind. Europa. Ach, Europa.

Wir fragen uns, ob wir Mitschuld haben. Das macht dieses Bild für uns so viel schwerer zu ertragen als all die anderen davor, jene aus Syrien oder aus dem Irak. Es spricht direkt zu uns: Das Europa, das wir geschaffen haben, ist es gut genug? Der Tod des kleinen Buben aus Kobane: Hätten wir ihn verhindern können? Wie? Flüchtlingen aus Syrien gewähren wir Asyl, aber die gefährliche Flucht erleichtern wir ihnen nicht, weil wir befürchten, es könnten sonst zu viele werden.


Geflicktes Herz. Der dreijährige Bub, sein Bruder, seine Mutter sind tot, und nichts kann sie lebendig machen. Aber unser Herz, das können wir flicken. Indem wir etwas tun. Und viele tun schon, sie fahren nach Budapest, um zu helfen, sie organisieren Wasser, Obst, Rasierer und Schnuller für jene, die in Österreich ankommen, sie schaffen Feldbetten herbei, sie übersetzen und beraten, trösten und sorgen dafür, dass Kinder einen Platz zum Schlafen haben. So viele sind es und so viel bewegen sie, dass auch die Politik nicht mehr tatenlos zuschauen kann.

Damit das Europa, das wir uns erträumen, kein Luftschloss bleibt.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2015)

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