Brandheiss und höchst persönlich

Legasthenie? Davon gibt es viele Formen. Ein paar praktische Tipps für Eltern, deren Kinder gerade lesen lernen – und ein wissenschaftlicher Hinweis.

Angenommen, Ihr Kind ist gerade in die 1.Klasse gekommen. Angenommen, es kann seinen Namen schreiben, aber wenn Sie es bitten, ihn zu buchstabieren, tut es sich schwer. Angenommen, es hört nicht, dass Mama mit „M“ beginnt und dass im Hund ein „u“ ist. Angenommen, es verwechselt außerdem links und rechts.

Dann muss das nichts bedeuten.

Bei unserer Tochter waren das allerdings Anzeichen für Legasthenie. Das heißt: eine Form davon. Es gibt nämlich nicht die eine Legasthenie. Der Prozess des Schriftspracherwerbs ist verflixt komplex und an vielen Punkten störungsanfällig: Darum lesen manche flüssig vor, verstehen aber nicht, was sie lesen, während es bei anderen genau umgekehrt ist. Viele legasthene Kinder verwechseln d und b, andere können weiche und harte Konsonanten (g und k, d und t) nicht voneinander unterscheiden, manchen fällt beides schwer. Bei den allerwenigsten wächst es sich aus. Aber die Kinder können lernen, die Defizite zu kompensieren. Mit unserer Hilfe.

Was ich dabei falsch gemacht habe: Zunächst einmal habe ich meinem Gefühl nicht getraut, dass da etwas nicht stimmt. Je früher aber man mit dem Üben beginnt, etwa dem Heraushören von Buchstaben und dem Erkennen von Silben, desto leichter haben es die Kinder später. Und ich habe irrigerweise angenommen, dass das mit der Rechtschreibung automatisch besser wird, wenn es mit dem Lesen einigermaßen klappt. Dass man beim Lesen die richtige Schreibweise einfach mitlernt, gilt aber gemeinerweise nur für Kinder ohne Legasthenie.


Kassetten! Was wir richtig gemacht haben: Wir haben sie mit massenweise Kassetten versorgt. Kassetten oder CDs sind eine Einstiegsdroge: Die Liebe für Geschichten bleibt. Außerdem haben wir mit ihr Kopfrechnen geübt. Manche legasthene Kinder stolpern über die Art, wie wir das Dezimalsystem aussprechen: Zehn-zwei sagte unsere Tochter statt zwölf. Ist logischer, aber falsch. Durchs Üben konnte sie wenigstens in Mathematik glänzen.

Was vielleicht richtig war, vielleicht aber auch nicht: darauf zu beharren, dass sie uns noch in der vierten Klasse laut vorliest.

Wie immer und allen Fehlern zum Trotz: Heute geht unsere Tochter in die 7. Klasse Gymnasium. Was mich zum letzten Tipp führt, der nicht auf Erfahrung beruht, sondern auf einer Studie: Geben Sie Ihr Kind, wenn es geht, auf ein Gymnasium. Es wurden alle möglichen Faktoren untersucht, die einen Einfluss auf die Entwicklung der Legasthenie nehmen, darunter das Haushaltseinkommen, die Bildung der Eltern, die Intelligenz des Kindes. Überraschung: Mit Abstand am wichtigsten war die Wahl des Schultyps. Gymnasiasten schnitten bei gleichen Voraussetzungen besser ab.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2015)

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