Höflichkeit

Bürgerliche Tugenden scheinen nicht mehr recht in unsere Zeit zu passen. Schade eigentlich. Der zweite Teil einer kleinen Serie, diesmal: Höflichkeit.

Gehe ich doch neulich Richtung Schwedenplatz, biege in der Wollzeile ein bisschen arg gach rechts ab – ich habe es schließlich eilig – und renne glatt einen jungen Mann über den Haufen. „Oh“, sage ich. „Entschuldigung“, sagt er. „Tut mir leid“, sage ich. „Mein Fehler“, sagt er, und ich muss lachen, weil mich das an einen dieser alten Sketche erinnert, in denen zwei Herren sich vor der Tür eines Restaurants treffen und einer sagt: „Nach Ihnen.“ Und der andere: „Nein, nach Ihnen.“ Und das geht immer so weiter, bis sie beide gleichzeitig losgehen und mit den Köpfen aneinanderkrachen.

So machte man sich früher über die Rituale der Höflichkeit lustig. War ja auch schräg: Dieses „Wer grüßt wen und wer geht zuerst die Treppe hinauf“. Seltsam fand ich das als Jugendliche. Und am seltsamsten fand ich, wenn beim Familientreffen im Restaurant darüber gestritten wurde, wer die Rechnung bezahlen „durfte“. Meine Güte, dachte ich mir: Einmal der eine, einmal der andere! Und für alle anderen Fragen braucht es auch keinen Knigge oder Elmayer, da reicht ein bisschen Freundlichkeit.

An der Kassa. Leider habe ich mich und meinesgleichen in den folgenden Jahren ein bisschen näher kennengelernt. Das Problem: Freundlich ist man, wenn die Sonne scheint und morgen auch die Sonne scheinen wird und sich das Leben ganz allgemein nicht allzu grau präsentiert. Aber wenn es regnet und der Nebenmann in der Straßenbahn den Schirm so an den Sitz gelehnt hat, dass einem das Wasser auf die Schenkel tropft. Oder wenn du eh schon den ganzen Tag lang immer eine Viertelstunde zu spät dran bist und dann stehst du hinter einem alten Herrn an der Kassa, der mit Münzen bezahlt, aber so schlecht sieht, dass er dafür das ganze Börsel ausleeren muss, und wenn dann noch die Dame hinter dir darauf drängt, dass du sie vorlässt, weil sie nur zwei Cola und einen Camembert im Einkaufswagen hat. Ja, dann ist es schnell vorbei mit dem Freundlichsein.

Dafür braucht man eben Höflichkeit, diese alte, ein bisschen tattrig wirkende Tugend. Sie macht das Zusammenleben und Zusammenprallen auf der Straße und im Leben erträglicher, indem sie es vor den Zufällen unserer Launen abschirmt. Damit wir auch dann, wenn wir im Recht sind, die Form wahren: „Entschuldigen Sie: Könnten Sie bitte . . .?

P. S. In unserer Familie gibt es einen kleinen Streit darüber, wer am höflichsten ist. Ich habe verloren. Ich war nämlich ruppig zu einer Verkäuferin. „Das war unhöflich“, rief mein Mann. „War es nicht!“, sagte ich. „War sie unhöflich?“, wandte sich daraufhin mein Mann an die Verkäuferin. Deren Antwort war so ehrlich wie formvollendet: „Wissen Sie, ich bin das gewohnt.“ ?

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2015)

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