Bürgerliche Tugenden: Pünktlichkeit

Bürgerliche Tugenden scheinen nicht mehr recht in unsere Zeit zu passen. Schade eigentlich. Der vierte Teil einer kleine Serie, diesmal: Pünktlichkeit.

Ich bin oft zu früh dran. Eigentlich so gut wie immer: Dann gehe ich ein paarmal um den Häuserblock, um den Gastgeber nicht in der Küchenschürze zu überraschen. Am Bahnhof nutze ich die Zeit, um mir ein Heft mit Sudokus zu kaufen, die mir dann entweder zu leicht sind oder zu schwer sind. Oder ich esse eins, zwei, drei von den Schokoladetäfelchen aus der kleinen, aber immer gut gefüllten Glasschüssel auf dem Konferenztisch.

Interessanterweise bin ich auch dann notorisch zu früh, wenn ich weiß, dass der andere notorisch zu spät kommt. Eine meiner Freundinnen etwa. Sie war in den 25 Jahren, die wie uns schon kennen, zwei Mal zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort, und das war vermutlich ein Versehen. Seit es Handys gibt, sendet sie mir wenigstens eine SMS, und seit sie via Tastatur auf Emojis zugreifen kann, schickt sie noch ein Unschuldsengelchen mit: „Tut mir leid, komme in einer Viertelstunde.“ Heiligenschein, Herzchen.

Es gibt, habe ich von ihr gelernt, auch Viertelstunden, die 30 Minuten dauern.

Wie lange dauert Schuheputzen? Man könnte also annehmen, dass mir Unpünktlichkeit ein Gräuel ist. Dem ist aber nicht so: Von allen bürgerlichen Tugenden, die ich bis jetzt aufgezählt habe – Höflichkeit, Bescheidenheit, Fleiß –, ist sie für mich die mit Abstand unwichtigste. Zum einen führt das Bedürfnis, pünktlich zu sein, zu grauenhaft ineffizientem Verhalten: Schon eine Stunde vor dem Termin fange ich an, mir die Zeit einzuteilen, ich überschlage, wie lange ich fürs Schuheputzen brauche, ich denke darüber nach, ob ich mich noch schminken muss oder ob ein bisschen Lippenstift reicht, ich kalkuliere mit ein, dass ich vielleicht den Schlüssel nicht auf Anhieb finde oder noch aufs Klo muss. Dann berechne ich den Weg zur U-Bahn, addiere die reine Fahrzeit, ich überlege, wie lange ich fürs Umsteigen brauche, vorausgesetzt, ich steige am richtigen Ende des Zuges ein, und dann füge ich noch zehn Minuten dazu, für den Fall, dass . . . Ja, was eigentlich? Es ist sinnlos.

Zum zweiten ist Unpünktlichkeit in Zeiten von Smartphones völlig egal: Die Sitzung beginnt zu spät? Wurscht, beantworten wir in der Zwischenzeit eben ein paar E-Mails.

Und drittens sitzen alle, die sich so rechtschaffen darüber ärgern, dass sie hin und wieder ein paar Minuten warten müssen, einem psychologischen Irrtum auf: Nein, die anderen kommen nicht zu spät, weil sie auf uns pfeifen, weil ihnen was anderes wichtiger ist, und sie glauben auch nicht, sie könnten über unsere Zeit frei verfügen. Das ist nicht Missachtung: Die versäumen auch den Flug ins verlängerte Wochenende nach Barcelona!

Ich denke, damit sind sie gestraft genug.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2015)

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