Manchmal glaube ich, das Leben sei planbar

(c) Clemens Fabry
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Ich hätte alles unter Kontrolle, wir müssten uns nur genug bewegen, Gemüse essen und auf der Straße brav nach links und rechts schauen.

Wieder einmal nichts passiert. Wieder einmal ist alles gut gegangen: Das letzte Jahr war wie das Jahr zuvor, und das nächste wird hoffentlich ähnlich wie dieses sein. Wieder einmal werde ich in die diversen Formulare die gleichen Daten eintragen, Bettina Eibel-Steiner, geboren in Innsbruck, wohnhaft in Wien; nein, die Adresse hat sich nicht geändert, die Telefonnummer nicht, und auch der Ehemann ist zu meiner Freude noch derselbe.

Wenn meine Schwester mich fragt, was denn so los sei bei uns, antworte ich: „Alltag halt.“ Alltag heißt: das übliche Gewurschtel im Job und Zuhause, zwischen Büro und Haushalt, inklusive nasser Handtücher im Bett, mirakulös verschollener Biobücher und noch nicht beantworteter E-Mails.

Alltag heißt aber auch: Keiner von uns ist dieses Jahr ernsthaft erkrankt, keiner hat einen Unfall gehabt, nichts hat uns aus der Bahn geworfen. Das Schicksal hat es 2015 gut mit uns gemeint und uns in Ruhe gelassen: Die paar Veränderungen, die es gegeben hat, haben wir gewollt, vielleicht ersehnt, vielleicht haben wir schon länger darauf hingearbeitet: keine Überraschungen. Wir spielen ja nicht einmal Lotto.

Deshalb gebe ich mich manchmal der Illusion hin, das Leben sei planbar; wir hätten alles unter Kontrolle, wir müssten nur die richtigen Knöpfe drücken, die richtigen Worte sagen, unsere Aufgaben erfüllen, acht Stunden schlafen, zweimal am Tag Obst und Gemüse essen, regelmäßig Treppen steigen, statt mit dem Lift fahren und vor dem Überqueren der Straße brav nach links und rechts schauen – dann bliebe unsere Welt schon heil.


Risse im Bild. Doch es gibt Momente, die zerstören diese Illusion. Da erzählen Freunde uns von gemeinsamen Bekannten, deren zwölfjährige Tochter an Krebs erkrankt ist. Zwölf! So alt wie unsere Marlene! Da verliert eines der Kinder beim Skifahren kurz die Kontrolle und fängt sich erst im allerletzten Moment – oder ein Auto braust gar zu knapp vorbei. Und dann wäre ich auch noch fast in einen U-Bahn-Schacht gefallen, weil ich beim Warten gelesen und geglaubt habe, meine U-Bahn sei schon eingefahren. Also wollte ich, immer noch das Buch in der Hand, einsteigen: Dabei war da gar nix, und was ich so über die Seiten hinweg gesehen hatte, waren die Waggons vom Bahnsteig gegenüber!

In solchen Momenten fährt mir kurz der Schreck in die Glieder, und ich seufze auf: „Noch einmal Glück gehabt!“

Und meine damit jenes Glück, das wir oft nicht zu brauchen glauben, weil wir in diesem Winkel der Welt das Schicksal so weit zurückgedrängt haben, wie es nur möglich ist – aber eben nicht ganz, niemals ganz: So fragil ist sie, unsere Existenz.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2015)

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