Freier! Offener! Gerechter!

Ich habe geglaubt, das würde immer so weitergehen. Als kenne die Geschichte nur eine Richtung: freier! Offener! Gerechter!

Als die Mauer fiel, hatte ich gerade zu studieren begonnen. Ich war auf Besuch in einer WG voller angehender Historiker und Politikwissenschaftler, und wir saßen mit offenen Mündern auf der großen, abgewetzten Couch im Wohnzimmer: Das hatten wir nicht kommen sehen! Ganz und gar nicht hatten wir das kommen sehen. (Okay, einer angeblich schon, aber das war ein Großmaul, der hätte im Nachhinein die Lottozahlen prognostizieren können).

Und so ging es weiter: Der eiserne Vorhang hob sich. Die Sowjetunion löste sich auf, eine Welt- und Atommacht, bedrohlich noch vor Kurzem, einfach so. Wien rückte vom Rand in die Mitte Europas, Prag lag plötzlich gleich ums Eck, und im Osten Berlins spazierte ich durchs ehemalige Bonzenviertel und wunderte mich über die kleinbürgerliche Biederkeit.

Dann trat Österreich der Europäischen Union bei. Ich mochte dieses Europa von Anfang an, ich mochte die Währungsunion, ich mochte Schengen: wie sich in der Geldbörse die Münzen mischten, ein deutscher Adler, ein Athener Steinkauz, Leonardos vitruvianischer Mensch, sogar eine irische Harfe fand sich manchmal. Keine abgegriffenen Lire-Scheine mehr mit absurd hohen Zahlen, die nach dem Urlaub in der untersten Schublade verstaubten. Und an der Grenze musste man nicht einmal mehr zu Ferienbeginn warten. Der Pass kam immer noch mit, aber irgendwo tief unten im Koffer. Für alle Fälle eben. Der Fall trat nie ein.

Ich habe geglaubt, das würde so weitergehen. Als kenne die Geschichte nur eine Richtung: offener! Weiter! Freier! Gemeinsamer! Der Golfkrieg, die Massaker in Bosnien, der arabische Frühling, der zum Winter wurde: Für mich waren das Rückschläge auf einem sicheren Weg. Hatte ich nicht selbst gesehen, wie Diktaturen gestürzt wurden, die Völker siegten?


Stacheldraht. Darum habe ich geglaubt, dass wir das schaffen können. Bei der Finanzkrise hat man sich auf eine gemeinsame Lösung geeinigt, da war es um Banken gegangen, jetzt ging es um Menschen, die zu Hause von Bomben zerfetzt wurden und vor den Toren Europas ertranken. Europa, dachte ich, war vielleicht bequem geworden, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, aber es ist stark genug, um zu helfen. Ich freute mich über arabische Karikaturen, die ein Europa zeigten, das Flüchtlingen die Türe öffnete, und einen Scheich, der seine Grenze mit Stacheldraht sicherte. „Eine Welle der Dankbarkeit für Europa, eine Welle der Empörung über arabische Regime“, kommentierte einer.

Ja, meine Hoffnungen haben sich zerschlagen. Sie können sagen: Ich war naiv. Sie können sagen, Sie haben das immer schon gewusst. Nach wie vor denke ich, wir hätten es schaffen können, aber ich sehe ein: Es geht nicht, wir verlieren. Ich finde, das ist für uns alle ein Grund, traurig zu sein.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

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