Eine Generation von Tyrannen

Wächst derzeit eine Generation von Tyrannen heran, der jede Empathie fehlt und die glaubt, ihr allein gehöre die Welt? Eh klar. Nur: War das nicht schon immer so?

Ein neues Buch also: „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“ heißt es, und ich habe ein Déjà-vu. Wie reagiere ich, wenn ich ein Déjà-vu habe? Ich google. Das ist typisch für meine Generation. Und für die Generation vor mir. Und die nach mir. Vermutlich überhaupt für alle Generationen. Okay, Scherz. Aber genauso, wie mich dieses Gerede über die Generationen anödet – wobei immer die gerade 20-Jährigen angeblich besonders konsumgeil, unmotiviert und unkritisch sind –, geht mir dieses Gejammere über die missratenen Kinder von heute und deren hilflose Eltern auf den Geist. Und Google gibt mir recht: Binnen zehn Minuten finde ich den Beweis, dass diese Tyrannenkinder keineswegs eine neue Erscheinung sind. Es gab sie im Jahr 2008 („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“). Es gab sie im Jahr 2001 („Entmachten Sie die kleinen Tyrannen“). Es gab sie 1999, und 1991 und 1988 („Der kleine Tyrann“), wobei ich mit ein bisschen umfassenderer Recherche wohl auch auf Bücher aus dem Jahr 1958 gestoßen wäre.

Eigentlich könnte man der Einfachheit halber das gleiche Werk immer wieder neu auflegen, und ich stelle mir vor, wie 2080 das jetzige Kindergartenkind als besorgter Opa seiner Enkelin ein Buch schenkt, in dem steht, dass wir alle verloren sind, wenn diese, ich meine diese Kinder einmal erwachsen werden und das Sagen haben. Und dann schaut er auf das Impressum und stellt fest, das Buch wurde 2016 geschrieben.

Erwachsene Tyrannen. Dabei ist die Diagnose ja nicht falsch. Die Welt ist voll von verzogenen Personen: von 70-Jährigen, die ihren Pudel über den Zaun des Kinderspielplatzes heben, damit er drinnen sein Geschäft verrichten kann. 50-Jährigen, die den Kellner zusammenscheißen, weil der länger als eine Minute braucht, um ihnen ein Bier zu bringen. 30-Jährigen, die ihren Porsche in die Seitenstraße fahren, aussteigen und in die Gasse pinkeln (Bitte, alles selbst beobachtet!). Es gibt sadistische Magistratsbeamte und ihre Macht missbrauchende Krankenschwestern, intrigante Sozialarbeiter und Buschauffeure, die einem absichtlich vor der Nase davonfahren, um nur ein paar Beispiele zu nennen: überall Tyrannen, wie sie im Buche stehen, und ich nehme an, auch jetzt wachsen wieder Menschen heran, die anderen die Tür vor der Nase zuschlagen, im Lift der Frau mit dem Kinderwagen den Platz wegnehmen und auf Facebook oder wie immer das Nachfolge-Tool heißen wird, ihre Freude darüber kundtun, dass ein Flüchtlingskind ertrunken ist.

Tyrannen, die sind nämlich typisch für diese Generation. Und für die Generation nachher und die Generation vorher. Sie werden nicht mehr. Aber sie werden leider auch nicht viel weniger.

Schade.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

(Print-Ausgabe, 10.04.2016)

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