Unser Gedächtnis

Manche Zeitgenossen sind der Meinung, all die Hilfsmittel, über die wir verfügen, machten unser Gedächtnis träge. Aber das ist ein Trugschluss.

Wenn Marlene mich am Festnetz anruft, was selten der Fall ist, da muss sie schon sehr verzweifelt sein, weil ich wieder einmal das Handy stummgeschalten habe, wobei das Stummschalten prinzipiell okay ist: jedenfalls für Kinder – für Mütter aber nicht, denn nur sie wissen, wann die Gitarrenstunde beginnt . . . Wenn also, um diesen Satz noch einmal zu beginnen, Marlene mich am Festnetz anruft und ihre Nummer auf dem Display erscheint, bin ich jedes Mal von Neuem verwundert: Wer könnte das sein?

So weit ist es nämlich gekommen. Ich kann die Telefonnummern meiner Töchter nicht nur nicht auswendig, ich erkenne sie nicht einmal wieder. Dagegen hat sich die Festnetznummer meiner Mutter so in mein Hirn gefräst, dass nur mehr das Krematorium sie daraus wird löschen können.

Buchstaben und Ziffern. Jetzt sind manche Zeitgenossen der Meinung, all die Hilfsmittel, über die wir heute verfügen, machten unser Gedächtnis träge, nix mehr zu tun, alles in den Favoriten gespeichert, aber das ist ein Trugschluss: Denn um diese Hilfsmittel bedienen zu können, bedarf es eines enormen Erinnerungsvermögens, ich kenne mindestens so viel Passwörter auswendig wie früher Telefonnummern, allein fünf für Computer, Laptops und Handys, beruflich und privat, dazu kommen diverse IDs und Benutzernamen, manche aus Ziffern bestehend, manche aus Buchstaben, einige aus Ziffern und Buchstaben, wobei darunter wieder welche sind, bei denen zwischen Groß- und Kleinschreibung unterschieden werden muss – und das alles wird verkompliziert dadurch, dass manche Konten noch über meine alte E-Mail-Adresse laufen.

So.

Nein, wir erinnern uns nicht an weniger, nur an anderes: Statt zu wissen, dass der Onkel zwischen 18 und 20 Uhr zu Hause ist, muss ich jetzt beachten, dass ich ihn am besten via SMS erreiche, es gibt Kollegen, die kontaktiere ich über Twitter, während andere Facebook nutzen, um sich zu verabreden, wobei man sich auf Facebook wenigstens keine Fantasienamen merken muss! Fantasienamen sind die ultimative Überforderung, Marlene heißt etwa auf jedem Social Media Account anders. Allein ihre Spitznamen auf Instagram, Snapchat und Co. würden ein Telefonbuch füllen, wobei es u. a. deshalb so viele sind, weil sie, wenn sie eines ihrer Passwörter doch einmal vergisst, einfach ein neues Konto anlegt.

Bei mir gilt übrigens: Bitte schicken Sie mir kein SMS. Zumindest nicht, wenn Sie es eilig haben. Und rufen Sie mich nicht an. Senden Sie mir ein Mail, die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mich auf diesem Weg binnen 20 Minuten erreichen, liegt bei 99 Prozent.

Und sagen Sie das bitte meinen Töchtern.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

(Print-Ausgabe, 15.05.2016)

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