Der Tod und der Sessel

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Und dann steht der leere Sessel vor der Tür, und ich denke mir: wie ungemütlich – als ob es zum Sterben einen gemütlichen Platz brauchte.

Zuerst war es ja nur ein Gerücht. Der Nachbar ist verschwunden. Die Polizei sucht nach ihm. Im ganzen Haus hat sie angeläutet und unter anderem unsere Kinder angetroffen: ob sie wüssten, ob Herr Z. zu Hause sei. Wann sie ihn das letzte Mal gesehen hätten. Keine Ahnung, natürlich, was interessiert zwei Teenager ein alleinstehender Mann in seinen Fünfzigern? Hätten wir Erwachsene uns ja schon mit der Antwort schwergetan. Neulich habe ich ihm kurz zugewinkt, aber wann war das genau? Diese Woche? Oder vergangene? Eine flüchtige Begegnung, wie es so viele in den vergangenen zwanzig Jahren gab, in denen wir mit Herrn Z. Tür an Tür lebten: ein kurzer Gruß, vielleicht noch ein knappes „Heut' ist es aber wirklich kalt“, und schon beugt sich wieder jeder über sein Schlüsselloch. So ist das in Wien, so habe ich es schließlich gewollt, oft weiß man nicht einmal, womit der Nachbar sein Geld verdient, außer es prangt ein Schild an der Tür: „Rechtsanwalt“. Oder: „Notar“.

Wie wenig ich von Herrn Z. wusste, wurde mir allerdings erst klar, als ich erfuhr: Sein Sohn hatte ihn als vermisst gemeldet. Ein Sohn! Ich habe nie vermutet, dass Herr Z. Kinder hat – bzw. hatte, jetzt ist er ja tot, seit Mittwoch schon, sein Sohn hat ihn gefunden, in einem Sessel. Herr Z. ist sehr plötzlich gestorben. Vielleicht, während ich Hannah gerade erklärte, dass sie ihre Klamotten in den Schrank räumen soll. Vielleicht, als ich Marlene am Morgen noch einen Kuss ins Stiegenhaus hinterherschickte. Woran stirbt man so unvermutet, was reißt einen aus dem Leben, wenn man noch keine 60 ist? Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Kann man eigentlich jemanden vermissen, den man kaum gekannt hat, weil er einfach dazugehörte, zum Alltag, zum Haus, zum Leben in Wien?

Der Schal. Am Tag, nachdem Herr Z. gefunden worden war, kam ich spät nach Hause und erschrak: Auf dem Gang vor seiner Tür stand der Sessel. Ein schwarzer, leerer Regiesessel. Ungemütlich, dachte ich mir, als ob man zum Sterben einen gemütlichen Platz brauchte, als ob es annehmbarer wäre, wenn es einen auf dem Sofa trifft. Und irgendwie unheimlich. Der Tod und der Sessel, Herr Z. und der Sessel, irgendwie ließ sich das nicht recht trennen. Über der Lehne hing noch sein Schal, nie sah ich Herrn Z. ohne Schal, er gehörte zu ihm wie sein schlacksiger Gang und die Zigarette auf dem Balkon. Obwohl, er hat ja aufgehört zu rauchen. Seither, fällt mir auf, habe ich ihn noch seltener gesehen.

Als der Sessel am nächsten Morgen verschwunden war, war ich erleichtert. Aber er war nicht weg, das heißt: nicht ganz, der Sessel stand jetzt im Hof, ein bisschen Schnee war auf ihn gefallen, und das war dann eigentlich ganz schön.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2017)

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