Am Herd

Vom Loslassen

Mein Sirenchen, mein Schneckerl, meine kleine Kröte: Die Matura liegt hinter dir, die Welt dir zu Füßen – und ich bin stolz, ich weiß auch nicht auf was. Auf dich halt.

Die Zettel sind verschwunden und die Bio-Bücher auch. Keine Post-its mit seltsamen Formeln kleben mehr auf unserem Wohnzimmertisch, keine Leuchtstifte kugeln unterm Sofa herum, die Physik-Mappen sind verstaut und die Jugendlichen, die in der Küche hocken, diskutieren wieder über YouTube und Politik und nicht über Synapsen und die Heisenberg'sche Unschärferelation. Es ist geschafft. Noch ein letztes Mal wirst du deinen schwarzen Blazer anziehen und die schwarze Hose, die wir im Herbst gekauft haben, damit du etwas Anständiges anzuziehen hast bei der Matura, nicht bedenkend, dass es Ende Mai sein würde und zu heiß für Schwarz in Schwarz: Du wirst in die Schule gehen, dein Zeugnis abholen und einen letzten Blick in deine Klasse werfen, die schon von der künftigen 5 a bezogen wurde. „Konnten die denn nicht warten?“, fragst du empört.

„Konntest du denn nicht warten?“, frage ich. Musste das alles so schnell gehen, musstest du so rasch eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, musstest du so rasch erwachsen werden? Was warst du doch winzig damals, winzig und quengelig und immer, immer hungrig. Sirenchen haben wir dich genannt und kleine Kröte und wir hatten keine Ahnung, was einmal aus dir werden würde: Würdest du mutig werden oder ängstlich, leutselig oder verschlossen, Astronautin oder Feuerwehrfrau? Würdest du den Humor deines Vaters erben? Die Beharrlichkeit deiner Mutter? Würdest du einmal so ordentlich sein wie deine Großmama und so gütig wie Oma?

Möglichkeiten. Das mit der Ordnung hat jedenfalls nicht geklappt, so viel wissen wir jetzt. Ach, so ein kleines Wesen birgt doch alle Möglichkeiten dieser Welt, nichts ist festgeschrieben, alles offen, das ist so beängstigend wie schön, und genauso schön ist es zu beobachten, wie aus diesen Möglichkeiten über die Tage, die Monate, die Jahre erst Wahrscheinlichkeiten werden – und sich schließlich Tatsachen herauskristallisieren: Nein, du wirst nicht Lehrerin werden, dafür bist du nicht geduldig genug, sagst du, und auch keine Schauspielerin, wie du das noch in der Volksschule wolltest. Du wirst Technische Physik studieren.

Mein Sirenchen, meine Schnecke, meine Kröte, bald wirst du 18, und ich bin stolz, ich weiß auch nicht auf was, auf dich halt. Ich könnte jetzt ausführen, wie großartig und wunderbar du bist und wie gern ich dich um mich habe, aber du würdest nur lachen und sagen, dass du das eh weißt: Schließlich haben alle Mütter und alle Väter immer und überall die allergroßartigsten Töchter und wunderbarsten Söhne. Dann würde ich sagen: stimmt. Und ich eben auch.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2017)

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