Heutige Studierende sind nicht blöder, sie sind nur anders

Sozialisiert in einer Trivial-Pursuit-Wissensmentalität will man offenbar immer weniger nach großen Zusammenhängen fragen.

Als ich ab 1972 studierte, waren mit mir viele Studienanfänger Spezialisten für bestimmte Tiergruppen, Resultat intensiver Beschäftigung in der Jugend. Kaum Ahnung hatten wir von molekularen Prinzipien, das Internet existierte noch nicht. Es war eine andere Welt. Heute führen offenbar der frühe Bildschirmbezug und der Mentalitätswechsel vom Anspruch an sich selbst zum Konsum- und Unterhaltungsanspruch an die anderen dazu, dass niemand mehr mit Artenkenntnis an die Uni kommt.

Wie man heute selbstverständlich von der Schule verlangt, Elternersatz-Institution zu sein, so glaubt man, dass die Uni dafür da sei, all jene Wissenslöcher zu stopfen, die man sich im Vorleben redlich erworben hat – durch Konsumation jener Unterhaltungsangebote, die für eine selbstverantwortliche, kreative Exploration dieser Welt von Kindesbeinen an keine Zeit mehr lassen.

Fortsetzung folgt an den Unis. Dort wird jenes Realwissen nicht (mehr) vermittelt, welches Studierende bräuchten, um etwa die Evolutionstheorie zu verstehen. Die Lehrenden kennen ja selber kaum mehr Tier- und Pflanzenarten. Absolut skandalös, dass Biologen graduieren können, ohne Kurse in Marinbiologie belegt zu haben. Immerhin gibt es 80 Prozent der Baupläne des Lebendigen nur im Meer. Wie kann man ohne sie die Evolution begreifen?

Nur eine verschwindende Minderheit von Studierenden kann etwa Pflanzen, Insekten oder Vögel im reichen Eichenwald von Ernstbrunn benennen. Wozu auch, wenn man an jenen kleinen Details von Wolfs- und Hundeverhalten arbeiten kann, die allein sich peer reviewed karrierefördernd publizieren lassen.

Karriere scheint heute mehr zu interessieren als Inhalte. Dermaßen systemangepasste junge Leute mögen leidenschaftlich daran interessiert sein zu verstehen. Aber sie tun sich schwer damit, weil ihnen schlicht die Assoziationsbasis fehlt. In einer Trivial-Pursuit-Wissensmentalität sozialisiert, kann und will man offenbar immer weniger nach den großen Zusammenhängen fragen.

Selbstverständlich sind deswegen die Studierenden heute nicht blöder, als wir es früher waren. Sie sind nur anders. Es steht ihnen ungleich mehr Information offen, in der sie schwimmen, versinken können, die kaum mehr zu systematisieren und zu internalisieren ist. Wahrscheinlich veränderte sich die Wissenskultur in den letzten 30 Jahren radikaler als in 200 Jahren zuvor. Weniger Wissen und Bildung, aber mehr Informationsangebot und -konsum. Schöne Neue Welt! Was Wunder, dass sich Kommunikation mit manchen jungen Studierenden anfühlt, als kämen sie direkt vom Mars; ihnen geht das wahrscheinlich umgekehrt genauso.

Was früher als Ausdruck von Kreativität galt, wird heute wohl eher als Zeichen mangelnder Emanzipation und Warmduschertums gelesen. Nicht einmal mehr kochen kann man. Man ernährt sich von (Halb-)Fertigprodukten. Egal, dass man sich damit in die Abhängigkeit der Industrie begibt. Dies erscheint typisch für eine Generation, die sich nur mehr in Abhängigkeiten wohlfühlt und einrichtet – Abhängigkeiten von Regeln und Vorschriften, vom Studienplan, von elektronischen Medien, von ihren sozialen Netzen, von den Interessen der Konzerne. Lamento eines alternden Wissenschaftlers? Schön wär's. Im Diskurs mit Kolleginnen und Kollegen aus den Geistes- und Sprachwissenschaften hört man Ähnliches.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2012)

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