Fressen, rauchen, saufen: Private Gewinne – öffentliche Kosten

Mündige Staatsbürger müssen mehr Verantwortung für ihr eigenes Verhalten übernehmen – auch für ihre Fehlleistungen.

Mir schmeckt es im Herbst immer viel zu gut – das Bratl, die frischen Nüsse und der Sturm. Die Tageslänge sinkt, das Körpergewicht steigt und damit auch die Motivation, im Frühjahr wieder zu fasten. Mein persönlicher „Wohlfühlkorridor“ liegt zwischen 83 und 88 kg. Darüber wär' ich wohl fettleibig. Nicht nur ein ästhetisches Problem, denn Übergewicht stellt ein eklatantes und objektives Gesundheitsrisiko dar.

Natürlich wehre ich mich im Einklang mit Christian Ultsch (Leitartikel in der „Presse am Sonntag“ vom 30. September) mit Händen und Füßen dagegen, mir vom Staat vorschreiben zu lassen, was und wie viel ich essen oder trinken soll und ob ich rauchen darf oder nicht. Der Staat ist ohnehin schon unerträglich übergriffig. Andererseits werden zunehmend Selbstmorde mit Messer und Gabel begangen, und noch mehr durch den Glimmstängel. Österreich ist diesbezüglich wahrlich ein Entwicklungsland.

Soll sein, könnte man meinen, jeder ist seines Glückes Schmied. Die Krux liegt aber darin, dass ein chronisches Übermaß an Schweinsbratl, Wein und Tabak nicht sofort tötet, sondern gewöhnlich erst nach längerem Siechtum. Wenn sich also jemand wider besseres Wissen krank frisst, säuft oder raucht, kommt die Krankenkasse für seine Behandlungskosten genauso auf wie für jemanden, der seltener krank wird, weil sie/er gesund lebt, mäßig isst und Alkohol trinkt, nicht raucht und sich genügend bewegt. Das individuelle Freiheitsrecht wird dort bedenklich, wo für die Folgen einer fahrlässigen Lebensführung die sogenannte „Solidargemeinschaft“ zwangsweise zur Kasse gebeten wird. Mit Raucherkrebskranken bin ich nicht solidarisch – nicht aus mangelnder Empathie, sondern in Achtung des Prinzips der persönlichen Verantwortung.

Daher würde ich auch gegen ein gänzliches Tabakverbot oder gegen ein Verkaufsverbot süßer und fetter Lebensmittel kämpfen. Individuelle Freiheit über alles. Die Freiheit muss auch für das Recht gelten, durch ungesunde Lebensweise kürzer zu leben. Ich bin aber sehr dafür, das Prinzip Freiheit vollständig zu denken. Leute, die sich vermeidbaren Risken aussetzen – Hochrisikosportler, Raucher etc. –, müssen in geeigneter Weise auch für die Folgen der selbst verschuldeten Gefährdung geradestehen, etwa durch spezifischen Versicherungsschutz.

Im Moment sind aber nicht nur beim Essen, Trinken und Rauchen die Gewinne privatisiert, während die daraus entstehenden Kosten der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Natürlich, Raucher und Trinker zahlen eine Menge Steuern, die aber bei Weitem nicht ausreichen, um die Folgen ihres Verhaltens abzudecken. Das gilt ja auch für das Autofahren, den CO2-Ausstoß oder die Bankenkrise.

Die Privatisierung der Gewinne und die Abwälzung der Kosten auf überforderte Steuerzahler wurden zum beherrschenden Prinzip westlicher Staaten. Arbeitende Menschen sind Melkkühe und Zahlsklaven und damit Erhalter eines Systems, das sie längst nicht mehr wollen. Mündige Staatsbürger müssen mehr Verantwortung für ihr eigenes Verhalten übernehmen und nicht mehr nur dazu verpflichtet werden, die Fehlleistungen anderer auszubügeln. Auf den staatsbürgerlichen Freiheitsrechten zu beharren, aber nach der Solidargemeinschaft zu rufen, wenn man es übertrieben hat, ist nur präpotent. Um das zu erkennen, braucht es keinen Wissenschaftler.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2012)

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