Der sogenannte Lerninstinkt: Zum Tode Peter Marlers

Der englische Verhaltensbiologe entdeckte, dass wir und andere Tiere nicht alles lernen wollen und können.

Dass Anfang Juli Peter Marler, Verhaltensbiologe an der UC Davis, im 86. Lebensjahr verstorben ist, sollte nicht nur Biologen wie mich traurig stimmen. Der geborene Engländer war nicht nur ein hochgeschätzter Kollege und Spezialist für den Gesang der Vögel, sondern trug auch zu einer weit jenseits des Elfenbeinturms relevanten differenzierten naturwissenschaftlichen Weltsicht bei.

In seinem Frühwerk entdeckte er die Dialekte der Vögel, zeigte, dass selbst Vogelgesang nicht einfach nach einem schlichten Reiz-Reaktionsschema abläuft, sondern flexibel an die Umstände angepasst werden kann. Später beschäftigte er sich mit der Kommunikation bei verschiedenen Affen. Er entdeckte, dass die grünen Meerkatzen unterschiedliche Warnrufe für verschieden gefährliche Tiere wie Leoparden, Adler oder Schlangen einsetzen. Rasch wurde klar, dass diese Tiere den Zusammenhang zwischen einem bestimmten Ruf und seiner Bedeutung lernen müssen.

Tatsächlich wissen wir 40 Jahre nach diesen Pioniererkenntnissen, dass in den meisten Fällen die Lautäußerungen von Tieren nicht einfach bloß instinktiv, reflexartig und auf einen Reiz hin Stimmungen mitteilen, sondern auch Bedeutungen transportieren. Keine hoch entwickelte Symbolsprache wie beim Menschen zwar – und noch immer suchen Kollegen nach der Syntax in den „Tiersprachen“ –, aber immerhin. Heute ist uns bewusst, dass umgekehrt menschliche Sprache nicht bloß Bedeutung kommuniziert, sondern in erheblichem Ausmaß auch Gestimmtheit.

So kam der ziemlich Lorenz'sche Ethologe Marler auch immer wieder in Berührung mit Lernen. Auf der Grundlage von breit gefächerten artvergleichenden Ergebnissen formulierte er sein wohl bedeutendstes Prinzip, den von ihm benannten „Lerninstinkt“, den Konrad Lorenz als „angeborenen Schulmeister“ bezeichnet hatte. Dies bedeutet, dass wir und andere Tiere nicht alles lernen wollen und können. Auch Lerninteressen und Lernfähigkeiten wurden evolutionär als Anpassung geformt, sie sind innerartlich hochgradig erblich. So etwa lernen Ratten nie, bestimmtes Futter zu meiden, wenn sie mittels Stromstoß bestraft werden. Sie meiden es aber, wenn ihnen davon schlecht wird. Menschen kommen mit einer Lernbegierde und -fähigkeit für Sozialverhalten und Sprache zur Welt.

Selbst komplexes menschliches Denken funktioniert in Bildern, erst sekundär in Worten. So stoßen etwa unsere Vorstellungs-, Lern- und Welterklärungsfähigkeiten in der Physik an ihre deutlichen Grenzen. Unter anderem deswegen benötigt man die Hilfsdienste der Mathematik, sozusagen als Krücke zur Erweiterung der Vorstellungs- und Erklärungsfähigkeit.

Der Tod Peter Marlers gemahnt auch daran, dass die Weisheit des Alters der Tatkraft, aber auch der Verunsicherung der Jugend immer unterliegt. In einer zerfallenden Informationsgesellschaft verdrängen Versatzstückspiritualität und Angst das Wissen um die Zusammenhänge. Wie schon immer findet die Weisheit der Verstorbenen nur sehr verkürzt Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Menschen. Es gelang uns zwar, vom Baum der Erkenntnis zu naschen, der Baum der Unsterblichkeit aber blieb unerreichbar. Weisheit als individuelle Errungenschaft, deren gesellschaftliche Konsequenzen der Tod entschärft. Tröstlich eigentlich, denn Altersweisheit kann die Jungen ganz ordentlich schulmeistern; was wir nach Marler beim Lernen unseren Anlagen überlassen sollten.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2014)

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