Wenn organisierte Religionen auf einen überforderten Staat treffen

Religion ist immer auch eine gesellschaftliche Größe. Sie kann daher niemals ausschließlich Privatsache sein.

Vor zwei Wochen meinte ich an dieser Stelle, dass religiöse Stammeszugehörigkeiten Kriege und Grausamkeiten verursachen. Vielen gefiel das nicht. Dass Religion derart aufregt, während die von mir thematisierte katastrophale Finanzierung der Grundlagenforschung aber offenbar kaum jemanden zu stören scheint, gefällt wiederummir nicht. Aber weiter im Thema: Natürlich gibt es auch die gute Religion. Der Krieg, aber auch der Frieden ist den Weltreligionen eingeschrieben. Wer wollte die fürsorgliche und friedensstiftende Rolle der Religionen bestreiten?

Selbst die Abschaffung der Religionen würde die Probleme der Menschheit nicht lösen. Spirituelle „Irrationalität“ gehört nun einmal untrennbar zum Menschen; sie manifestiert sich nicht nur in der Religion, sondern auch in anderen politisch-ideologischen Systemen, etwa auch im Glauben an die Nichtexistenz Gottes.

Wir sind als Individuen aufgrund der evolutionären Herkunft janusköpfig als Gut und Böse angelegt. Fürsorglichkeit im Dienste der Gemeinschaft steht im Widerstreit zu handfesten Egoismen. Auch Religionsgemeinschaften bestehen aus Menschen, mit all ihren guten und schlechten Anteilen. Kriegstreiber oder Friedensengel – Demut oder Machtanspruch: Es kommt eben darauf an, wie Religion gelebt wird. Weil organisierte Religionen immer auch Machtansprüche entwickeln, geraten sie zwangsläufig in Konkurrenz zum Machtmonopol des Staates.

Wehe dem demokratisch-pluralistischen Staat, dessen juristische oder reale Verfassung sich mit einer bestimmten Religion ins Bett legt. Das führt in einer immer pluralistischeren Gesellschaft zwangsläufig zu Konflikten. Der Staat muss heute peinlichst auf gleiche Distanz zu allen Religionen achten. In Österreich aber herrscht mit Konkordat und separaten Religionsgesetzen ein Konglomerat aus dem Erbe von Monarchie und Nationalsozialismus, das überhaupt nicht mehr in die Gegenwart passt. Aber warum sollte ein zutiefst reformunfähiger Staat ausgerechnet sein Verhältnis zu den Religionen neu regeln können oder wollen?

Religion ist immer auch eine gesellschaftliche Größe, sie kann daher nicht Privatsache sein. Es braucht ständige Standortbestimmungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Die Religionen müssen selbst Zurückhaltung üben, wollen sie den Frieden wahren. Die Kirche hat das Recht und die Pflicht, ihre moralischen Positionen zu vertreten. Im Fall des massiven Lobbyings kirchlicher Organisationen gegen das neue Reproduktionsgesetz scheint aber die Grenze zur Einflussnahme weit überschritten; eine Machtdemonstration auch gegenüber anderen Religionen. Wir brauchen weder die Scharia noch die überkommenen Grundsätze einer Kirche, bei denen allzu oft die Barmherzigkeit auf der Strecke bleibt.

Gleich, ob atheistisch, agnostisch oder religiös – das individuelle Anrecht auf Überzeugung und Zugehörigkeit ist mit der Pflicht verbunden, zum Wohle aller zu wirken und nicht nur für den eigenen kleinen Stamm. Im Gegenzug hat jeder das Recht, vom Staat gleich behandelt zu werden. Dies erfordert ein einziges Religions-Rahmengesetz für alle. Der gegenwärtige staatliche Murks muss über kurz oder lang zu massiven Konflikten führen.

Trotz allem: Aus der Tradition und aus dem Herzen heraus, und sicher nicht als Versuch religiöser Vereinnahmung wünsche ich allen Lesern frohe, friedliche und besinnliche Weihnachten.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2014)

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