Was Menschen wirklich von anderen Tieren unterscheidet

Menschwerdung ist Evolution des Wortes. Tiere haben keine Worte – aber haben sie deswegen auch keine Seele?

Menschen sind zwar nicht die einzigen Tiere, die denken können. Aber nur sie erhoben sich mit ihren Ideologien, ihren religiösen und gesellschaftlichen Konzepten (scheinbar) über das Sein. „Homo sapiens“, weil wir über Gott, Zeit und Raum nachdenken können? Lieber Herr Kollege Linné: „Homo philosophicus“ wäre zutreffender gewesen. Weil wir mit Arnold Gehlen von Natur aus Kulturwesen sind.

Heute wissen wir, dass Schimpanse, Wolf und Co. flexible Entscheidungen treffen und nach Ursache-Wirkung-Zusammenhängen handeln können. Sie stellen sich die Zukunft vor, planen und denken in Episoden. Raben nutzen als Basis für ihr Tricksen und Täuschen sogar, dass sie wissen, was andere wissen. Und Tiere sind nicht „stuck in time“, wie Bertrand Russell meinte. Man „vertierlicht“ Menschen heute auch nicht mehr,wenn man unterstellt, dass sie viele ihrer Entscheidungen irrational (im spieltheoretischen Sinn) treffen – auch in der Wirtschaft übrigens, in der Politik ohnehin.

Aber nur Menschen sind zur komplexen Symbolsprache fähig. Andere Tiere kommunizieren über ihre Laute neben Stimmungen sehr wohl auch Bedeutungen, aber mit Sprache im eigentlichen Sinn hat das wenig zu tun. Erst das Wort erlaubt es, individuelles Denken sozial zu vernetzen. So können wir mentale Zeitreisen mit anderen teilen, über Ethik streiten, darüber, wer wir sind, wo wir hingehen, oder ob es atavistischer Aberglaube sei, an Gott zu glauben.

Mehr noch: Sinneseindrücke benennen zu können erlaubt es uns, zu hoch differenzierenden Tee- oder Weinkennern zu werden, obwohl uns Hunde in der Geruchsempfindlichkeit um Zehnerpotenzen schlagen. Aus Wein machen sie sich dennoch nichts, wohl, weil es ihnen an Wortassoziationen für Aromen fehlt. Dass Menschen Worttiere sind, macht sie zu den am radikalsten sozial orientierten Wesen dieser Erde. Niemand sonst verfügt über eine derart differenzierte Gesichtsmuskulatur, um damit Emotionen ausdrücken zu können.

Es ist nicht vorstellbar, dass dies ohne Fähigkeit zur Benennung und damit zum Bewusstmachen auch komplexester Befindlichkeiten entstanden wäre. Menschwerdung ist Evolution des Wortes, und das Wort treibt die Evolution des Menschen. So entstanden das Mythen- und Geschichtenerzählergehirn, der Drang und Zwang zur Welterklärung, das Potenzial, uns von der Angst zu befreien – oder uns aber in ihr zu versenken. Das Wort brachte den Fluch über uns, unter Verdrängung der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft leben zu müssen. So kann das Worthirn Menschen tiefer unglücklich machen, als andere Tiere das je sein könnten. Und wohl auch glücklicher, wenn auch nur allzu selten.

Die abendländische Geistesgeschichte vollzog die Emanzipation von Tieren und Natur, war der selbstarrogierte Wandel vom Natur- zum Geisteswesen. Göttervorstellungen mutierten parallel dazu von Tieridolen, über Mensch-Tier-Hybriden und allzu menschliche Götterolympen zum einen und einzigen Gott, seinerseits Projektion des idealen Menschen.

Im Gegensatz zum Alten Testament spielen Tiere im Neuen Testament keine Rolle mehr. Sie respektierten die Augenhöhe. Tiere der Jäger und Sammler mutierten im Zuge dieser Emanzipation zu intensiv gehaltenem Fleisch. „Auferstehung“ ist ein Konzept von Menschen für Menschen. Tiere haben keine Worte – aber wo steht eigentlich geschrieben, dass sie deswegen auch keine Seele hätten?

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2015)

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