Man ist, was man isst: Kultur dominiert unsere Ernährung

Ernährungsstile sind Marker für Gruppenzugehörigkeit. Sie können sogar zur regelrechten Ersatzreligion werden.

Tiere müssen essen. Auch wir Menschen können nicht einfach mit Hautgrün das Sonnenlicht einfangen, wie es Pflanzen tun. Essen ist aber nicht bloß Energiezufuhr, sondern steht im Zentrum der sozialen Kultur. So tritt epidemische Fettleibigkeit vor allem auf, wenn Nahrung zeitminimiert eingeworfen wird und Kühlschrank und TV-Gerät über die gemeinsame Nahrungsaufnahme obsiegen. Werden aber Genuss, Qualität, traditionelle Speisenzubereitung und gemeinsames Essen zelebriert, so gibt es wenig Übergewicht.

Essen ist als soziale Veranstaltung angelegt. Je weniger Zeit und Kompetenz beispielsweise ins Kochen investiert wird, umso mehr boomen Kochbücher und Fernsehsendungen, in denen gemeinsam gekocht und gegessen wird. Sehnsucht des vereinsamten Chips-, Cola- und TV-Menschen nach der heilen Welt?

Essen war nie einfach nur Energiezufuhr. Über hunderttausende von Jahren jagten und sammelten unsere Vorfahren gemeinsam, sie bereiteten gemeinsam die Tiere und Knollen in irdenen und geflochtenen Töpfen auf dem Feuer zu und verzehrten sie gemeinsam. Bereits Schimpansen teilen erbeutete Tiere, lang vor der Nutzung des Feuers. Beim gemeinsamen Essen und Trinken entstanden die Geschichten der Menschheit, und auch das spezifisch menschliche Sprach-und Mythengehirn.

Mit dem Sesshaftwerden verlor sich die kreativ-trophische Muße der alten Stammesgesellschaften. Arbeit begann, den Alltag zu dominieren, patriarchale Systeme entstanden und mit ihnen schichtspezifische Essgewohnheiten. Fürderhin kontrastierte die Statusfunktion des Luxusessens der Herrschaft oft genug mit dem Kampf der Unterschichten um überlebenssichernde Ernährung.

Neuerdings ist die sogenannte Steinzeitdiät en vogue – also Fleischernährung, ergänzt mit Nüssen und Grünzeug, aber ohne Getreide. Tatsächlich hatten die Jäger und Sammler gesunde Zähne, während nach dem Sesshaftwerden und der Umstellung auf Getreideernährung Kariesepidemien wahre Kahlschläge in den Gebissen selbst junger Menschen verursachten.

Allerdings ermöglichten uns Mutationen über die letzten 12.000 Jahre, zu immer besseren Stärke- und Milchverdauern zu werden, und verstärkten die Anti-Karies-Wirkung des Speichels. Dass wir heute wesentlich besser an eine variantenreiche Mischkost samt Getreide angepasst sind als unsere Altvorderen, entlarvt die Steinzeitdiät als romantische Ideologie.

Ganz parallel dazu entwickelten sich übrigens im Zusammenleben mit uns aus Wölfen die Hunde. „Barfen“ nennt man die zur Steinzeitdiät parallele Ernährungsideologie beim Hund. Gemeint ist wolfsnahe Ernährung mit rohem Fleisch, Obst und Gemüse. Hunde verdauen Stärke heute aber viel besser als Wölfe, sie sind daher mit gutem Trockenfutter bestens bedient. Natürlich, Menschen und Hunde lieben immer noch saftige Steaks. Auch kein Problem, so man es damit nicht übertreibt.

Junkfood-Typen, Gourmetsnobs, (vorwiegend männliche) Fleischfresser, Flexitarier, Vegetarier, Veganer usw.: Ernährungsstile sind immer auch Marker für Gruppenzugehörigkeit, sie sind Ideologien unterworfen und werden immer mehr zu Ersatzreligionen. Man ist, was man isst. Sinnsuche über den Magen, sozusagen. Eigentlich auch nichts Neues. Schließlich leben Menschen mit spirituell bedingten Ernährungstabus und -vorschriften, seit es Menschen gibt.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2015)

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