Warum wir denken, und wie das Denken funktioniert

Warum 100 Milliarden hoch vernetzter Nervenzellen des Gehirns komplexe Leistungen und nur selten Chaos liefern.

Wir bewundern Intelligenz, verachten Dummheit und bewerten solcherart beinahe zwanghaft ständig unsere Umwelt. Wenn sich die eigenen Hunde oder Kinder nicht als die klügsten von allen herausstellen (die schönsten sind sie ohnehin), kann die große Sinnkrise ausbrechen. Ehen werden geschieden, wenn der Alltag den Märchenprinzen als hohle Nuss entlarvt. Als „dunkel“ bezeichnen wir jene brachialen Epochen und Kulturen, in denen rohe Kräfte Denken und Intelligenz unterdrücken. Bis heute werden von Tyrannen zuallererst die intelligenten Eliten verfolgt, Populisten suchen ihre Macht durch Herunterfahren von Bildung zu wahren. Wenn man heute etwa meint, dass wir mit den Flüchtlingen viel Islam importieren, dann steckt dahinter auch die Angst vor der Unbildung und vor der Ausdünnung aufgeklärten Denkens.

Die großen Philosophen des Abendlandes waren über die Jahrtausende naturgemäß stark auf das Denken fixiert. Ungefragt „emanzipierten“ sie uns in trauter Allianz mit den Buchreligionen von unseren Wurzeln in der Natur. Also sprach René Descartes: „Cogito ergo sum.“ Im Sinne des Leib-Seele-Dualismus transzendierten viele Philosophen auch das Denken selbst, lösten es, subsumiert unter „Geist“, gleich ganz vom Körper.

Naturwissenschaftlern mutet diese seltsame vitalistisch-rationalistische Idee der Trennung von Körper und Denken seltsam an. Konrad Lorenz meinte bereits in den 1930er-Jahren – wohl auch beeinflusst vom Wiener Kreis –, dass alles Verhalten ausschließlich durch „physiko-chemische Vorgänge im Gehirn“ zu erklären sein müsste. Heute weichen Vermutungen zunehmend Wissen, wie das Gehirn Entscheidungen vorbereitet und als Sitz aller unserer Weltsichten das Verhalten steuert. Es gewährleistet, dass wir unbewusst atmen, macht mit den anderen Instanzen des Körpers unsere Persönlichkeit aus, bewerkstelligt die bewussten Denkleistungen. Buchstäblich macht das Gehirn unsere Umwelt, vernetzt uns mit ihr. Dazu verbraucht es bei acht Prozent des Körpergewichts 25 Prozent der Energie. Konzernzentralen kosten eben.

Aber warum liefern 100 Milliarden hoch vernetzter Nervenzellen komplexe Leistungen und nur selten Chaos? Neben evolutionären Voreinstellungen zu den Verschaltungen und wie das Gehirn zu wachsen hat, bewirken dies einfache Verfahrensregeln zu seiner Plastizität. Durch Gebrauch werden die Verbindungen zwischen Nervenzellen verstärkt und sogar neue Nervenzellen gebildet. Bis ins hohe Alter übrigens lautet die Grundregel: „Use it or lose it.“ Erik Kandel zeigte, dass dies den Grundmechanismus für Lernvorgänge des Gehirns darstellt.

Schon lang zeigten Gehirnverletzungen, dass Denkfunktionen bestimmten Hirngebieten und Netzwerken zuzuordnen sind. Diese Einsichten wurden spektakulär erweitert, seit es möglich ist, dem lebenden Gehirn beim Denken in Vernetzung mit den Instinkten und Gefühlen zuzusehen. Viel an philosophischem Ballast und historischen Hypothesen zum Denken ist heute Geschichte.

Und nein, Naturwissenschaftler sind keine Klugscheißer, sie wissen es heute einfach wirklich besser. Wie das Denken, also die „Biopsychologie des Verstandes“, funktioniert und wie es sich evolutionär entwickelte, kann man übrigens im Dialog mit internationalen Top-Experten beim 2. Biologicum im Almtal vom 8. bis 11. Oktober ergründen (www.biologicum-almtal.at).

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

Emails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2015)

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