Auf des Messers Schneide: Die Zukunft des liberalen Europa

Will das aufgeklärte Europa nicht untergehen, muss man sofort damit aufhören, lächerlich über Zäune zu streiten.

Flüchtenden aus Wahnsinnskriegen muss geholfen werden, im mühsamen Ringen zwischen humanistischem Anspruch und den Realitäten. Was aber bedeutet das Einströmen von etwa einer Million Menschen pro Jahr aus diesen Gebieten und aus Afrika für die Zukunft? Viele junge Leute kommen, die die Schnauze vom konservativen Gott und den Religionskriegen voll haben, die bildungshungrig etwas werden wollen, die ihre sozialen Ideale mitbringen. Sie haben das Potenzial, zu einem weltoffenen, kreativen und wirtschaftlich erstarkenden Europa beizutragen.

Es könnte aber auch in Richtung von illiberal, engstirnig und zerrissen gehen, in Richtung einander bekämpfender Subkulturen und Religionen, in Richtung eines konservativen Islam, der in das Denken der Scharia zurückfällt, in Richtung Extremismus und Antisemitismus. Nicht nur in Frankreich geht schon heute immer mehr Juden die Luft zum Atmen aus. Die Ideale der Französischen Revolution auf den Lippen, etablierte man eine Art Apartheid. Terroranschläge in Serie bezeugen nun den chronischen Bürgerkrieg.

Im spätmetternichschen Österreich vernachlässigt man traditionell Bildung, Unis und Forschung. Man schafft es trotz elendslanger Diskussionen nicht, Schulen und Bildung endlich zu reformieren. Die Eliten in Politik und Wirtschaft geben sich schamlos forschungs- und bildungsträge. Die Zukunft erscheint dunkel, angesichts eines Staates, in dem immer mehr die Pensionisten und die bildungsfernen Immigrantenkinder den Ton angeben.

Die letzten 20 Jahre zeigen, was uns bevorstehen kann, wenn nicht endlich Entscheidendes geschieht. Um 1980 lag der Anteil der Muslime hierzulande und in Dänemark unter einem Prozent – heute dort bei 4,5, bei uns gegen zehn Prozent. Nicht nur in Dänemark werden die Kinder der Einwanderer konservativer, religiöser, bildungsferner und distanzierter gegenüber Verfassung und Rechtssystem. Räumliche und geistige Ghettobildung ist heute Realität.

Man flüchtet in Schönreden, in den Traum von einem „Islam europäischen Zuschnitts“, beschwört die wichtige Rolle früher arabisch-persischer Wissenschaftler und bewundert Leuchttürme, wie das ach-so-aufgeklärte Weltbild des aus Afghanistan stammenden deutschen Philosophen Ahmad Milad Karimi. Der kommt zwar tolerant daher, aber auch er denkt nicht daran, Gott selbst zu hinterfragen. In Europa geht es eindeutig in die falsche Richtung.

Was also tun? Die Erfahrung zeigt, dass ein bisschen Integration viel zu wenig ist. Man muss endlich akzeptieren, dass die konservative Ausrichtung unter den muslimischen Einwanderern in ihrer chronischen Ablehnung und Ausgrenzung begründet ist. „Sie“ haben sich in Ghettos verschanzt, aber „wir“ haben diese verursacht. Will das liberal-aufgeklärte Europa nicht untergehen, muss man sofort damit aufhören, in Politik und Medien lächerlich über Zäune zu streiten. Vielmehr muss man zügig und radikal in die Neuankömmlinge investieren. Rezepte von gestern sind tot.

Es bedarf Institutionen, schlagkräftiger politischer Strukturen und Wohnraums, der nicht in die Ghettobildung führt. Vor allem aber muss man kompromisslos in viel mehr und viel bessere Bildung, in Unis und Forschung investieren. Frankreich liegt uns sehr nahe. Wenn es so weitergeht, laufen wir sehenden Auges in die Katastrophe. Die Immigranten sind da, um zu bleiben. Sie werden dann zur Bedrohung, wenn es weitergeht wie bisher.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Universität Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.